Tosca contra Alzheimer
von Puma Concol
Kurzfassung zum kostenlosen Studium
Vorwort
Als ich meine Pflegetätigkeit beendet hatte, fand ich mit etwas Glück alle Teile meines Protokolls wieder, das ich während der sechs Jahre als Tabelle geführt hatte. Auf der Grundlage dieser eng mit Kürzeln beschriebenen 327 Seiten war es mir möglich, ein Sachbuch zu verfassen, mit dem ich Menschen in einer vergleichbaren Situation meine Erfahrungen mitteilen konnte.
Alle Personen der Handlung sind zum Schutz ihrer Privatsphäre unter Pseudonym aufgeführt. Wenn ausnahmsweise Klarnamen verwendet werden, sind diese mit * gekennzeichnet.
Prolog
Unterwegs nach Augsburg waren wir über den dichten Verkehr überrascht. „Wenn die Autobahn hier nicht zweispurig wäre, müssten wir umkehren, auf der rechten Spur hängt ein Brummi hinter dem anderen in einer ununterbrochenen Schlange. Langsam! Schon wieder ein Elefantenrennen, diesmal sogar bergauf“. Aber schließlich kamen wir doch noch rechtzeitig zur Sprechstunde bei dem Chefarzt der Wirbelklinik an, wo wir uns angemeldet hatten.
Tosca fährt 2000 nach Madagaskar, so hatten Tosca und ich unsere Sommerreise genannt, nach dem Jugendbuch, das wir beide als Kinder gelesen hatten, Monika fährt nach Madagaskar.
Wir hatten uns am 26. Juli 1961 – dieses Datum ist in unseren Eheringen eingraviert - bei einem Fest im Zoologischen Institut der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen kennengelernt.
Tosca, eine 22-jährige Erstsemestrige, groß, schlank und sehr mädchenhaft, mit vollem braunem Bubikopf und hübschen Gesichtszügen, die selbstbewusst in klarer hochdeutscher Sprache an Diskussionen teilnahm. Ich, ein spätberufener, schon 31-jähriger Achtsemestriger, mit leuchtenden, blauen Augen, etwas größer als sie und bemüht, sein Stuttgarter Schwäbisch ihrer deutschen Hochsprache anzugleichen.
Ich hatte eine abgeschlossene Berufsausbildung als Lehrer an Grund- und Hauptschulen mit mehrjähriger Berufserfahrung an verschiedenen Schulen in Stuttgart und Metzingen hinter mir. Um studieren zu können, hatte ich noch Ergänzungsreifeprüfungen in Mathematik und Latein abzulegen gehabt. Im Vergleich zu meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen stellte ich einen Zwölfender dar, zu dem Erstsemestrige wie Tosca achtungsvoll aufblickten.
Tosca hatte in Berlin, im Lettehaus, Hauswirtschaft studiert. Sie hatte in dieser Zeit bei einer Berliner Familie, den Tapperts, gewohnt, bevor sie ihren Traum, Biologie zu studieren, in Angriff genommen hatte. Ihr verehrter Biologielehrer Miezel* im Landschulheim am Solling, der freundschaftlich Harry Miezelchen* genannt wurde, war wohl für die Wahl ihrer Studienfächer verantwortlich gewesen, vor allem für die Wahl von Biologie als Hauptfach.
Dazu kam bei ihr eine ausgeprägte Tierliebe, mit der sie als Kind ihr weißes Angorakaninchen Hannibal und später den Irish Setter ihrer Eltern Bari, den sie Runk nannten, ins Herz geschlossen hatte.
Mein Mentor Karl Mann war ein Schulkamerad meines Vaters gewesen und hatte mich auf meiner bisherigen Laufbahn mit freundschaftlichem Rat und Tat begleitet. Er war Dozent für Biologie am Pädagogischen Institut Eßlingen und ich hatte bei ihm eine experimentelle wissenschaftliche Hausarbeit über Pflanzenphysiologie geschrieben.
Als Biologe und Pädagoge mit Leib und Seele konnte er seine Begeisterung leicht weitergeben. Er half mir auch später auf meinem beruflichen Wege weiter, nachdem er selbst Professor für Biologie und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Weingarten geworden war.
Als ich Tosca kennenlernte, stellten wir fest, dass wir die gleichen Fächer studierten, Biologie im Hauptfach und Chemie und Geografie in den Nebenfächern. Wir studierten beide mit dem Ziel der wissenschaftlichen Prüfung für das Lehramt an Gymnasien. Außerdem verband uns eine starke Neigung zur Zoologie als Schwerpunkt innerhalb des Faches Biologie.
Ich sah sie zum ersten Mal, als ich im Seminarraum des zoologischen Instituts zufällig aus dem Fenster blickte. In ihrem hellen, zartgelb gestreiften Sommerkleid erinnerte sie an einen Schmetterling. Dann ertappte ich mich dabei, dass ich auf sie wartete. Ich war schon heimlich in sie verliebt, als ich sie unter den Erstsemestrigen im Anfängerpraktikum entdeckte. Mich durchzuckte es, ich war verloren.
Im Praktikumsraum des Zoologischen Instituts an der Hölderlinstraße, heute Paläontologische Sammlung, roch es streng nach in Formol. Bei den Tierbestimmungsübungen durfte ich als Hilfsassistent unter den strengen Blicken von Dr. Burke bremsen, wie man das salopp nannte.
Dr. Burke, der das Seminar gerade mit der Bemerkung geschockt hatte: „In Ihrem Alter habe ich schon alle einheimischen Tierarten gekannt, einschließlich dieser Fische hier“. Thema waren gerade die Süßwasserfische. Ich ging herum, um wenn nötig Hilfestellung zu geben, während die Studierenden von Tisch zu Tisch weitergingen. In den Schalen vor ihnen lagen Fischpräparate aus der zoologischen Schausammlung, welche aus diesem Anlass aus ihren Schaugläsern genommen worden waren.
Ich blieb immer ein bisschen länger dort stehen, wo Tosca gerade war. Natürlich hatte sie dies schon bemerkt. Sie schaute mir in meine leuchtenden Augen und senkte verschämt den Blick. Das war Flirt. Mein Puls ging schneller. Vor ihr lag ein Bodensee-Blaufelchen. Zwischen uns knisterte es fast hörbar. „Das Hauptmerkmal der lachsartigen Fische, zu denen die Blaufelchen gehören, ist die Fettflosse“, sagte ich klug und deutete auf dieses Merkmal. Ich war glücklich, als sie mich mit großen Augen und charmantem, leichtem Silberblick ansah.
Bei meiner nächsten Runde traf ich sie bei der Zährte oder Russnase, wo wir uns über die nasenartig vorragende, fleischige, dunkel berußte Schnauze dieses Süßwasserfischs amüsierten. Die Chemie stimmte bei uns absolut. Das war Liebe auf den ersten Blick.
Nachdem ich 1964 zum Dr. rer. nat. promoviert worden war, folgte rasch unsere Liebesheirat. Unsere Zukunft lag im hellsten Sonnenschein, obwohl wir beide eigentlich nichts anderes als Bohemiéns mit sehr bescheidenen Ressourcen waren.
Als wir fast vier Jahrzehnte später mit Studiosus-Reisen, Slogan „IntensivErleben“, die siebzehnte unserer gemeinsamen Fernreisen in alle Welt antraten, die oben erwähnte Reise „Tosca fährt 2000 nach Madagaskar“, hatte sie schon ihr letztes Berufsjahr als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen erreicht.
Ich war seit drei Jahren Professor emeritus für Biologie und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Weingarten auf dem Martinsberg. Als „Unruheständler“ arbeitete ich inzwischen begeistert im Team mit neun ebensolchen Kolleginnen und Kollegen im Umweltamt des Landratsamtes Ravensburg als ehrenamtlicher Naturschutzbeauftragter.
Wir spürten auf dieser Reise erste Anzeichen eines heraufziehenden Gewitters. Die Reisegruppe musste einen langen Umweg auf sich nehmen, obwohl ein tropischer Platzregen drohte, weil Tosca vor einem breiten Flachgewässer stehen geblieben war und sagte, ich kann das nicht. Ich kann nicht so weit springen. Ich möchte aber auch nicht in den Bach fallen. Ich gehe nicht weiter. Zuvor schon hatte sie sich bei der nassen Landung auf Madagaskar nicht von Bord getraut, so dass der Reiseleiter sie kurzerhand auf seine Schultern gepackt hatte, mit ihr von Bord gegangen war, und sie dann am Sandstrand abgesetzt hatte.
Als Schulkind, als Hasenkind ihrer lieben, auch bei mir unvergessenen Mutti, musste Tosca wegen einer leichten Wirbelsäulenverkrümmung, einer Skoliose, eine Zeitlang ein Gipskorsett tragen, für eine Grundschülerin eine nicht nur körperliche Last.
Als Spätfolge, sie war inzwischen als Beamtin im Ruhestand, konnte Tosca ihre Füße bei längeren Spaziergängen, vor allem bergab, nicht mehr richtig weich aufsetzen. „Was ist eigentlich mit deinem Fuß los, der macht immer klapp-klapp auf dem Asphalt?“, wollte ich teilnahmsvoll wissen. „Das tut mir leid, aber er gehorcht mir einfach nicht so, wie ich selbst will“. Da handelte es sich wohl um die ihr prophezeiten späteren Probleme im Zusammenhang mit ihrer frühkindlichen Skoliose. Man konnte damit noch recht gut zurechtkommen. Das änderte sich dann aber plötzlich, als sie, am Schreibtisch sitzend, einen Bandscheibenvorfall mit nachfolgenden sehr heftigen Kreuzschmerzen erlitt.
Als sich die Schmerzen nach einigen Wochen Wartezeit nicht bessern wollten, meldeten wir uns zur Sprechstunde bei unserem Hausarzt an. Dr. Murphy konnte von einem reichen Erfahrungsschatz zehren: „Ich habe immer wieder Patienten mit Rückenproblemen zur Untersuchung nach Augsburg geschickt. Die dortige Wirbelklinik hat einen sehr guten Ruf“, meinte er. Das klang so überzeugend, dass wir gar nicht auf die Idee gekommen waren, auch noch anderswo um Rat zu fragen, was sich später als schwerer Fehler herausstellte. Eigentlich hätte uns das auch Dr. Murphy raten sollen, aber manchmal überwiegen Routine und Selbstwertgefühl das Maß an Empathie, das man von einem Arzt für seine Patienten erwartet.
Der Chirurg, ein bekannter Professor, riet nach mehreren Untersuchungen zu einer Rückenoperation. Im Jahr 2008 wurde Tosca dann eine Stütze aus einer Titanlegierung neben der Lendenwirbelsäule eingepflanzt. Nach einer langen Reha in Neutrauchburg machte sie an einem stabilen Rollator namens Trionic Veloped Spaziergänge in unserem schönen, großen Garten. Sie konnte diesen Rollator damals noch gut durch den Garten schieben. Croco hatte sie ihn getauft, weil er sie an ein Krokodil mit aufgesperrtem Rachen erinnerte. Der erhoffte, positive Effekt auf ihre Kondition stellte sich jedoch nicht ein.
In den folgenden sechs Jahren waren wir noch sehr oft auf Reisen. Unsere letzte Fernreise im Jahr 2011 war eine bequeme Schiffsfahrt den Mekong abwärts durch Laos. Von da an machten wir nur noch kürzere Flugreisen, gewöhnlich viermal pro Jahr nach Fuerteventura, wo wir eine kleine Ferienwohnung gekauft hatten.
Doch diese Kurzreisen wurden immer mehr zur Qual. Am Abflughafen Friedrichshafen musste man einen Rollstuhl und Betreuungshilfe in Anspruch nehmen, und ebenso am Zielflughafen Fuerteventura. Zum letzten Mal waren wir im September 2014 dort. Kurz darauf musste ich bestürzt feststellen, dass Tosca nach einer Grippeimpfung am 14. Oktober, kombiniert mit einem Medikament gegen Harndrang, am nächsten Morgen einfach nicht mehr aufstehen wollte.
Pflegejahre
Nachtstörungen (2015), die Blaue Phase
Ich versuchte mit gutem Zureden, Tosca zum Aufstehen zu bewegen. Ohne Erfolg. Ich beriet mich mit meinem Bruder Tresor, einem Mediziner. Dieser sagte: "Sieh zu, dass sie wieder aufsteht, sonst steht sie dir überhaupt nicht mehr auf".
Meine Bemühungen blieben jedoch erfolglos. Sie stand tatsächlich nicht mehr auf. Und somit begann die blaue Phase der häufigen Nachtstörungen, Toscas erstes Jahr als bettlägerige Patientin, das Jahr 2015. Mit blauer Farbe, mit Nachtblau, unterlegte ich in meinem sorgfältig geführten Pflegeprotokoll die Ereignisse zwischen 20:00 Uhr und 06:00 Uhr. Auf die ersten Pflegemonate dieser blauen Phase trifft die Bezeichnung am besten zu.
Als Pfleger war ich ein blutiger Anfänger, ein richtiger Amateur, aber einer, der sich fast jeden Tag so fühlte, als könne er Bäume ausreißen. Ja, ich wollte und konnte meine Tosca gut betreuen. Ich machte das auch sehr gerne. Fachlich war ich nicht unbedarft. Dreißig Jahre lang hatte ich als Professor für Biologie und ihre Didaktik Lehramts-Studenten unter anderem in Humanbiologie ausgebildet. Das bedeutete Vorlesungen halten, aber auch praktische Übungen und Experimente leiten, beispielsweise zur ersten Hilfe bei Herzinfarkt.
Dies und mein Wissen über Anatomie, Morphologie und Physiologie des Menschen kamen mir und damit auch Tosca nun zugute.
Nach Eintritt in den Ruhestand hatte ich eine weitere Zurruhesetzung erlebt. Im Jahr 2011 war meine ehrenamtliche Tätigkeit als Naturschutzbeauftragter beim Landratsamt Ravensburg nach 15 Jahren altershalber zu Ende gegangen, was praktisch eine zweite Berufstätigkeit bedeutet hatte. Mit 80 Jahren konnte man sich in dieser Tätigkeit nicht mehr vor dem Kreistag verlängern lassen, was ich zuvor zweimal für je 5 Jahre getan hatte. Es hieß jetzt lapidar: „Ab 80 ist Schluss“.
Ich nahm also zur Kenntnis, dass ich plötzlich anstelle meiner innigst geliebten Ehefrau eine Patientin hatte. Meine Rolle war jetzt die eines Arztes. Dessen selbstverständliche Verpflichtungen gegenüber seinen Patienten hatte ich nun gegenüber einer einzigen Patientin, meiner Tosca, meiner großen Liebe seit mehr als 50 Jahren.
Ob diese Verpflichtungen nun auf Hippokrates zurückgehen, oder allenfalls von Platon und Anderen auf diese mythische Arztgestalt projiziert worden waren, ist dabei unerheblich.
Meine neun Jahre jüngere Patientin wollte ich so gut pflegen, dass sie mich überleben würde. Ich fühlte mich gesund und fit, ich fühlte "Kraft im Arm". Und ich liebte sie, jetzt, da sie so hilflos war, noch mehr als zuvor. Aber auf eine den Umständen entsprechende Art.
Aus meinem Pflegeprotokoll konnte ich entnehmen, wie oft ich im blauen Jahr 2015 nachts geweckt worden war. Im ersten Halbjahr stand ich durchschnittlich dreimal pro Nacht auf. Jede zehnte dieser insgesamt 565 Aktionen erwies sich dabei als falscher Alarm.
Eine einzelne derartige Aktion lief folgendermaßen ab: Komm, ich setzte dich auf und drehe dich zum Sitzen an die Bettkante. Nimm die Arme um meinen Nacken. Ich ziehe dich jetzt hoch und drehe dich zum Rollstuhl, zum Rolli. Jetzt schiebe ich dich die paar Meter in die Toilette. Lege bitte wieder die Arme um meinen Nacken. Ich setze dich jetzt auf die Toilette. Fertig? Ich ziehe dich wieder hoch und setze dich auf den Rolli. Ich schiebe dich in das Schlafzimmer zurück und hebe ich dich wieder ins Bett.
Danach fiel mir jedes Mal das Einschlafen schwer. Bald stellte sich bei mir das Gefühl des Schlafmangels ein, das ich nun überhaupt nicht mehr loswurde. Im Laufe der kommenden Jahre sehnte ich mich immer stärker nach ein paar Tagen Urlaub, in erster Linie, um einmal wieder richtig ausschlafen zu können. Von der Welt hatte ich mit Tosca zusammen genug gesehen, und ich konnte diese Erlebnisse im Gegensatz zu ihr bis in die kleinsten Details jederzeit im Gedächtnis abrufen.
Schon bevor ich krank wurde, musste ich nachts ein paarmal raus. Deshalb hatte ich auch um ein Medikament gegen diesen quälenden Harndrang gebeten. Es ist mir schon wahnsinnig unangenehm, dass ich den Puma so oft wecken muss, aber was soll ich machen? Gottseidank habe ich diese Windeln. Jetzt ist alles viel besser, und vielleicht kann ich ja auch bald wieder aus dem Bett aufstehen. Dann fliegen wir wieder nach Fuerteventura.
In Friedrichshafen und auf Fuerteventura funktioniert das mit der Rollstuhl-Betreuung ja ganz gut, das haben wir inzwischen oft probiert. Wir buchen die Rollstuhlbetreuung immer gleich mit. In den Behindertentoiletten finde ich mich gut zurecht. Abflughallen sind immer riesig interessant. Ich sehe da oft Leute wieder, die mir schon bei früheren Flügen aufgefallen sind.
Wir fliegen regelmäßig im Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Da reservieren wir immer unsere Ferienwohnung für uns selbst. Dazwischen wird sie von der Verwaltung vermietet, und wir bekommen Mieteinnahmen. Sie heißt Conejo (Kaninchen) weil sie zwei Eingänge hat, so dass ein Kaninchen bei einem einzelnen Eindringling immer einen Fluchtweg nach draußen findet.
Und dann erst der Flug! Fliegen ist für mich wunderbar, seit ich zum ersten Mal mit Puma in die USA geflogen bin, das war 1983, da war ich 44 Jahre alt und es war mein erster Flug. Puma hat mich damals vor der Golden Gate Bridge in San Francisco fotografiert und mir gesagt, wie hübsch ich mit meinen braunen Haaren im Wind aussehe. Mit solchen lieben Gedanken kann ich immer wieder schnell einschlafen, hoffentlich mein lieber Puma auch.
Im zweiten Halbjahr 2015 musste ich dann nur noch durchschnittlich einmal pro Nacht aufstehen, meistens, weil Tosca Durst hatte. Wir hatten auf Windeln, eine Art Pampers, umgestellt. Das Landratsamt ließ damals volle Plastiksäcke mit gebrauchten Inkontinenzartikeln zusammen mit dem Restmüll kostenlos abholen. Unser Leben normalisierte sich damit wieder etwas.
Tosca war am 14. Oktober 2014 krank geworden. Das Pflegeprotokoll begann ich erst fast einen Monat später. In den ersten Tagen meiner Pflegetätigkeit stellte sich heraus, dass das Badezimmer sofort behindertengerecht umgebaut werden musste.
Ich ließ die Fußbodenfliesen und die Badewanne herausschlagen. Sie musste einer Sitzbadewanne mit Tür Platz machen. Die beiden Waschbecken wurden durch ein einziges, mit dem Rollstuhl unterfahrbares ersetzt. Jetzt hatte hier im Badezimmer auch noch ein WC Platz. Am 19. November 2014 konnte die neue Sitzbadewanne mit Tür und einem hölzernen Einsteigerost eingeweiht werden.
In der ersten Protokollzeile vom 10. November 2014, 18:36 Uhr, die wie alle normalen Tageseinträge rötlich unterlegt ist, steht Toilette und Urin, in der zweiten, jetzt mit der Nachtfarbe blau unterlegt, 22:07 Uhr, Toilette und sehr viel Urin, und in der dritten von 00:20 Uhr ebenfalls Toilette, aber dahinter in roter Schrift, Beine sacken weg vor Rollstuhl.
Ich berichte dies so ausführlich, weil mir dieser Satz jedes Mal, wenn ich die Pflegetabelle im Computer öffne, in die Augen springt. Tosca rutschte damals vom Rollstuhl. Sie war kein Leichtgewicht mehr, das war sie einmal gewesen. Ihr Körpergewicht ging schon auf 80 kg zu, ihr künftiges Normalgewicht. Ich wog immer ca. 73 kg, und Toscas Kollegin Nuria nannte mich bei einem Krankenbesuch einmal spöttisch einen Strich in der Landschaft.
So sehe ich mich zwar nicht, aber ich brauchte nun doch alle Kraft, um Tosca wieder in den Rollstuhl hochzuziehen. In dieser ersten aufgezeichneten Nacht folgten noch drei weitere Toilettenbesuche, um 01:44, 03:17 und 07:15 Uhr, einer davon ohne Wasserlassen. Ich hatte mir mit dieser Aufgabe offensichtlich sehr viel vorgenommen.
Noch am gleichen Tag erhielt Tosca ihre zweite Physiotherapie von Sigrun, einer jungen Therapeutin mit einer erfrischenden positiven Ausstrahlung und Einwirkung. Auch wenn diese Behandlungen in der Regel nur zweimal pro Woche für je 20 Minuten erfolgten, waren sie für mich doch eine sehr große Hilfe, so dass ich mich jedes Mal darauf freute, auch, weil ich immer um Rat fragen und dadurch meine Pflege verbessern konnte.
Das blieb auch über die gesamte Pflegezeit hinweg so. Zwischenzeitlich wurde Sigrun, eine junge Mutter mit drei orgelpfeifenartig verschieden großen jungen Töchtern, zum vierten Mal schwanger, und hielt trotzdem bewundernswert lange mit der Pflege durch. Aber schließlich wurde es ihr zu viel und sie kümmerte sich hilfsbereit um eine Nachfolgerin. Nach 122 Therapien, es war inzwischen der 13. Mai 2016, ging sie in den Mutterschutz.
Der negative Kontrast der polnischen Betreuerin, die sie uns als potenzielle Nachfolgerin schickte, war so stark, dass ich sie ablehnen musste. Wir sahen sie nur ein einziges Mal bei uns. Ihre großen sprachlichen Probleme wurden durch ein mürrisches Wesen und einen offensichtlichen Mangel an Empathie ergänzt, so empfand wenigstens ich diese Vorstellung. Ich hatte das Gefühl, dass sie so in etwa das genaue Gegenteil von Sigrun war. Das tat mir zwar leid für sie, aber bei uns war für sie nicht der richtige Platz.
Aber dann hatten wir Glück. Wir bekamen eine vor Energie sprühende, zurückhaltende junge Betreuerin, die sich so vorstellte: „Ich bin Frau Schäfer“. Während ich Sigrun immer mit ihrem Vornamen angesprochen hatte, war ich von diesem Auftritt so beeindruckt, dass ich sie für die kommenden Therapien, mein Protokoll zeigt mir, dass dies 282 Behandlungen waren, mehr als doppelt so viele wie diejenigen von Sigrun, immer nur mit „Frau Schäfer“ angeredet hatte.
Und was für Behandlungen dies manchmal waren! Ich werde immer wieder darauf zurückkommen.
Die letzte Therapie erhielt Tosca von ihr am 26. Oktober 2020, eine Woche, bevor sie starb. Man braucht keine große Fantasie, um sich vorzustellen, dass die insgesamt 404 Therapien einen großen Zeitraum zusätzlicher wertvollster Lebenszeit für meine Frau bedeutet hatten. Ich bin dankbar, ja gerührt, über diese oft weit über die beruflichen Pflichten hinausgehenden Behandlungen.
Den Vornamen von Frau Schäfer erfuhr ich dann erst über den Brief, mit dem sie mir ihr Beileid zum Tode meiner Frau ausdrückte. Mascha, – so hätte ich sie gerne von Anfang an genannt. Aber das kann ich jetzt nachholen, nachdem ich ihr professionelles Können nach einem Unfall mit Bein- und Wirbelbruch, kurz bevor meine Frau starb, selbst in Anspruch nehmen musste. Nach Knigge darf ein alter Herr einer jungen Dame das Du anbieten. Und meine entsprechende Bitte wurde nicht abgelehnt.
Der Gang zu Toilette und Badezimmer, mit meiner Frau am Arm eingehakt, wurde immer schwieriger. Ich ließ mich in einem Sanitätshaus beraten, und war bald darauf Besitzer eines qualitativ erstklassigen Rollstuhls. Diese Anschaffung, die ich ohne Einbeziehung der Krankenkasse privat tätigte, war von nun an Gold wert.
Mein Pflegealltag nahm mich voll in Anspruch. Neben der alltäglichen Haushaltsführung und dem Vorbereiten und Anreichen von Mahlzeiten und Getränken war ich auch für die seelische und körperliche Betreuung zuständig. Die Morgen- und Abendwäsche im Badezimmer vom Rollstuhl aus mit Zähneputzen, Waschen und Eincremen dauerte je eine Stunde.
An Sonntagen nahm die Morgenwäsche allein schon drei bis vier Stunden in Anspruch. Neben Maniküre und Pediküre stand sonntags auch das Waschen und Föhnen der Haare auf dem Programm. Um dies zu bewältigen, besorgte ich mir über das Internet die entsprechenden Hilfsmittel. Bei meinem Friseur beobachtete ich den professionellen Umgang mit Föhn und runder Haarbüste. Zum Glück bin ich auch handwerklich recht geschickt.
Immer mehr wurde mir klar, dass der Pflegebereich, das Obergeschoss unseres Einfamilienhauses, mit Schlafzimmer, Bad und Toilette, dringend behindertengerecht umgebaut werden musste. Als Allererstes musste ein Treppenlift eingebaut werden.
Am 4. November 2014 gab ich das Stichwort Treppenlift in das Internet ein. Eigentlich wollte ich mir zunächst einen Überblick verschaffen, aber die aufmerksame Mitarbeiterin einer Firma in der Nähe fing mich ab und nahm sofort Kontakt mit mir auf. Ich erbat ein Angebot, bestätige dieses, und wenige Tage später wurde unser Treppenhaus fachmännisch digital vermessen. Bald darauf war die Schiene vom Obergeschoss bis zum Erdgeschoss mit Haltestelle und weiter bis zum Untergeschoss montiert. Dann wurde der Lift aufgesetzt.
Gut einen Monat hatte es insgesamt gedauert, bis ich nun bei einer Probefahrt mit dem Treppenlift bequem und sicher bis auf das Niveau der Garagenausfahrt gelangen konnte. Ein weiterer Rollstuhl wurde angeschafft, um von der Garage aus ins Freie gelangen zu können. Mein Protokoll berichtet: „12.12.14 – Mit Sigrun zusammen Lift ausprobiert. Erfolgreich“.
Mit dem Lift im Erdgeschoß angekommen, konnte ich meine Frau jetzt am Arm durch ihren vertrauten Wohnbereich führen, der für sie in den vergangenen zwei Monaten nicht mehr erreichbar gewesen war. Sigrun empfahl mir, einen Pflegerollstuhl zu beantragen. Mit Hilfe eines Rezeptes von Dr. Murphy erhielt ich von der Krankenkasse rasch grünes Licht für die Miete – teure Pflegehilfsmittel werden nur leihweise genehmigt, da sie in der Regel nur eine begrenzte Zeit benötigt werden, in unserem Fall waren das zwei Jahre und 3 Monate bei insgesamt 50 Einsätzen bis zum 14. März 2017. Nachdem Tosca endgültig bettlägerig geworden war, gaben wir das Gerät wieder zurück. schon Am 8. Januar 2015 führte Sigrun ihre erste manuelle Therapie mit Tosca im Pflegerollstuhl im Wohnbereich durchführen.
Tosca gab sich alle Mühe, mir den Alltag zu erleichtern. Zum Glück beklagte sie sich fast nie über Schmerzen. Was genau in ihr vorgingt, konnte ich nur erraten, denn sie war recht schweigsam geworden, seit sie sich nicht mehr selbständig fortbewegen konnte.
Was ist das? Fremde, unheimliche Gestalten überall, und ich kann sie nicht wegscheuchen. Sie verschwinden, und ich bin von daumengroßen Ameisen umgeben, die an meinen Beinen hochkrabbeln und mich stechen, so dass ich wegrenne, aber nicht von der Stelle komme. Farbige Lichter blenden mich und ich bin plötzlich in Australien ganz allein auf einer weiten Wüstenebene und rufe verzweifelt nach Puma.
So interpretierte ich den lapidaren Protokolleintrag vom 12. November 2014, 20:45 Uhr: „Redet unverständlich, wirr“. Sie wachte damals schweißgebadet auf. Es musste ein Alptraum gewesen sein. Ich hatte mich dabei in meine Frau hineingedacht und war mir sicher, sehr nahe an ihre Fantasien herangekommen zu sein. Und Australien hatten wir auf drei geleiteten Fernreisen sehr eindringlich gemeinsam erlebt, nicht zuletzt die endlosen Sand- und Steinwüstenflächen, in die ich sie in Gedanken versetzt hatte.
Eine Woche später notierte ich: „03:40 Uhr. (….) Anschließend auf Fußboden“. Es war der Tag, an dem Sigrun um 14:15 Uhr zum dritten Mal zur Physiotherapie kam. Gemeinsam trugen wir unsere Patientin, die 10 Stunden in einem Notlager auf dem Fußboden von mir versorgt worden war, wieder in ihr Bett.
Ich suchte daraufhin im Internet nach technischen Möglichkeiten, um Tosca notfalls auch allein in ihr Bett zurückbringen zu können. So kam ich schließlich in den Besitz von Pegasus, einer ausgeklügelten, gewichtigen Aufstehhilfe, und einiger notwendiger Zusatzartikel wie Rutschtuch, Tragegurt und Keilkissen.
Ich probierte das Gerät aus, indem ich mich damit selbst auf Betthöhe hochkurbelte. Das funktionierte zufriedenstellend. Ich kopierte die Beschreibung des Ablaufes einer Rettungsaktion in Bildern, foliierte diese, und legte alles griffbereit. Ich war jetzt ruhiger. Im Ernstfall musste ich also den Pegasus in ein fast ebenerdiges Gerät mit schräger Rückenlehne und zum Boden hin klappbarem Keilbrett zum Hochziehen auf den Sitz bereitstellen, meine Patientin auf einem Rutschtuch mit Hilfe eines Tragegurtes auf den Sitz ziehen, sie langsam hochkurbeln und auf das Bett rollen. Das hörte sich gut an. Ob das auch wirklich funktionieren würde? Ich musste einfach abwarten.
Ich habe immer wieder versucht, mein Handy so zum Telefonieren zu benutzen, wie Puma es mir eingerichtet hat. Er hat mir gesagt, ich müsse nur auf die 3 drücken, dann könne ich mit ihm sprechen und ihn sogar auch dann erreichen, wenn er im Auto unterwegs sei. Ferhad versuchte, mir zu helfen, aber sie hat nach mehreren erfolglosen Versuchen einfach aufgegeben. Dabei habe ich doch immer meinen eigenen PC gehabt, mit dem ich gut zurechtkam. Es wurde erst schwierig, als das mit dem Doppelklick nicht mehr funktionieren wollte.
Als ich heute schlimme Rückenschmerzen hatte, ich glaube, ich habe laut „Aua“ geschrien, wollte ich Puma anrufen, aber ich habe es nicht geschafft. Jetzt warte ich eben, bis er vom Wocheneinkauf im Supermarkt zurückkommt. Ich habe immer Angst, wenn ich warten muss. Ich weiß nie, ob ihm vielleicht unterwegs etwas zugestoßen ist, wenn es länger dauert, bis er zurückkommt.
Und dann fällt mir noch Dr. Mendelez von Medicproof ein. Er wollte von mir wissen, wie unsere Bundeskanzlerin heißt. Mir ist es nicht eingefallen. Aber Puma wollte ja eine Pflegestufe für mich, und unser Hausarzt Dr. Murphy hatte ihm den Tipp mit Medicproof gegeben. Da ist es vielleicht sogar besser, dass mir der Name von Angela Merkel nicht gleich eingefallen ist. Wer weiß?
Da kam also am 14. November 2014 nach telefonischer Ankündigung ein Dr. Mendelez, ein mürrischer alter Mann mit schleppendem Gang, der auf mich wirkte, als hätte er selbst eine Pflegestufe verdient. Der Besuch dauerte gerade einmal vierzig Minuten, dann hatte er genug gesehen und gehört. Ich dachte, daraus wird nicht viel werden, und wartete erst einmal ab.
Nachdem ich gut ein Vierteljahr vergebens gewartet hatte, wurde ich in meinem anstrengenden Pflegealltag so unruhig, dass ich mir schließlich am 4. März 2015 bei Dr. Murphy in der Sprechstunde Rat holte. Ich erfuhr von ihm, nach seiner umfangreichen Erfahrung erhalte man routinemäßig zunächst einmal höchstens die Pflegestufe eins von damals drei Pflegestufen.
Schon am nächsten Tag verschaffte sich Dr. Murphy bei einem Hausbesuch einen gründlichen Überblick über die allgemeine häusliche Situation bei uns und vor allem über den Gesundheitszustand meiner Frau. Er versprach mir seine Unterstützung, wenn meine Frau entweder keine oder die Pflegestufe I bekommen sollte, was seiner Meinung nach ungerecht sei. Bald darauf wurde mir von der Krankenkasse tatsächlich die Einstufung meiner Frau in Pflegestufe I mitgeteilt.
Der von mir alarmierte Dr. Murphy ließ mich nicht lange warten und erstellte ein ärztliches Attest über die tatsächliche Pflegebedürftigkeit, welches ich meinem Antrag auf Höherstufung beilegte, und meine Frau erhielt daraufhin die Pflegestufe II „mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz“ zugesprochen. Ich hielt das zu diesem Zeitpunkt für angemessen.
Meine ersten Pflegewochen waren erfüllt vom Lärm der Abbrucharbeiten im nahen Badezimmer, gesteuert von einem anfeuernden Bauleiter und ausgeführt von kreativen, auf Altbausanierung spezialisierten Handwerkern. Das mit Bauschutt halb gefüllte Badezimmer musste eimerweise geräumt werden. Hierbei lernte ich einen Handwerker kennen, mit dem ich inzwischen Freundschaft geschlossen habe. Ich nenne ihn hier einfach Ben. Er ist Meister aller Klassen der Altbausanierung. In seinem Hänger vor dem Haus wuchs immer wieder ein Schuttberg, der aus jeweils zwei schweren Eimern angeschüttet wurde, die er die Treppen mit fünf Wendepunkten hinunterwuchtete.
Mein Freund Carlos und ich halfen mit, so gut wir konnten. Unsere beiden Eimer waren zwar jeweils nicht ganz gefüllt, aber ein klein wenig konnten wir doch an der Räumung Anteil haben. Bald waren Boden und Wände neu gekachelt und das zweite Waschbecken war einem WC gewichen.
Schon nach fünf Wochen Pflege konnte ich meine Frau in der neuen Sitzbadewanne duschen und waschen. Allerdings war das sehr zeitaufwändig. „19.11.2014 Sitzbad – 90 Minuten, mit Haare waschen. Probleme“ steht im Protokoll. Tags darauf waren es 120 Minuten. Nach zwölf Einsätzen mit durchschnittlich fast zwei Stunden Dauer hatte die Sitzbadewanne acht Monate später ausgedient und wurde von meiner Sanitärfirma verschrottet, wie ich auf Nachfrage erfuhr. Trotz des bequemen Einstiegs über einen Holzrost und durch eine breite Tür erwies sich das Duschen im Sitzen auf dem rutschigen Sitz für mich als eine wahre Rosskur. Ich weinte dieser Interimslösung keine Träne nach. Meine Frau vielleicht schon eher.
Mein Puma sagt, ich fahre dich jetzt ins Bad. Ich bin gespannt, weil er mir gesagt hatte, ich könne heute zum ersten Mal seit langer Zeit wieder duschen. Wo früher die Badewanne gestanden hatte, erhebt sich jetzt ein hohes, weißes, würfelförmiges Plastikmöbel bis auf meine Augenhöhe. Ich bin splitternackt und werde erst auf einen warmen Holzrost gestellt, den ich zuvor noch nie gesehen habe, und dann auf einen recht kalten und rutschigen Plastiksitz gehoben. Die Tür schließt mit einem satten Klick, und ich werde mit einer Handbrause geduscht.
Dabei steigt das warme Wasser langsam bis zu meinen Knien hoch, während mir die Haare gewaschen werden. Dann kommt der ganze Körper an die Reihe, und ich fühle mich richtig wohlig. So schön war die Körperpflege nur früher in der Badewanne. Doch das muss sehr, sehr lange her sein, denn diese Badewanne war jahrzehntelang nichts als ein Staubfänger, da wir immer in der Duschkabine duschen. Wieder draußen im Rolli warten Hautcremes, der neue Fön und die großartige Friseurbürste auf mich. Am Schluss fühle ich mich wohlig warm und liebevoll gepflegt, und freue mich auf das nächste Mal.
Dann begann der letzte, nunmehr voll behindertengerechte Umbau des Badezimmers. Nach einer professionellen, gratis angebotenen Beratung durch die COMPASS Private Pflegeberatung kam die Interims-Toilette im Bad wieder weg, und das WC in unserer gewohnten Toilette wich einem Dusch-WC, eine teure, aber sehr lohnende Hygiene-Einrichtung.
Im Bad wurde eine Decke mit sechs Strahlern eingezogen, und es erhielt wieder wie früher unter dem seitenlangen Spiegel zwei Waschbecken, die jetzt mit einem Rollstuhl unterfahren werden konnten. Die gläserne Duschkabine wurde durch eine befahrbare Duschmulde ersetzt. Von der Decke strömte beim Duschen aus einer breiten flachen Metallscheibe ein satter warmer Regen. Eine Handbrause vervollständigte das Ensemble, zu dem auch ein klappbarer Seitenarm mit Duschvorhang, Wandhalterungen und ein Duschsitz gehörten.
Das ganze Bad erhielt farblich harmonisch in Grautönen ausgewählte Kacheln, ein großer Gegensatz zu den zuvor blauen Wandkacheln und dem leuchtend rot gefliesten Fußboden. Am Rande sei erwähnt, dass wegen der Duschmulde im darunter liegenden Zimmer ein Ablaufrohr quer durch den ganzen Raum gezogen werden musste. Eine Zwischendecke wurde eingezogen, und das Problem war gelöst.
Nach acht Monaten war der Umbau geschafft, und es begann eine Zeit des Experimentierens mit einem vom Sanitätshaus leihweise zur Verfügung gestellten Duschrollstuhl. Mit diesem erging es mir ähnlich wie den Eltern heranwachsender Kinder, deren neue Kleider wunderbar passen, aber schon nach kurzer Zeit zu klein sind und im Kinderbasar landen.
Sanitär-Großgeräte werden grundsätzlich von den Sanitätshäusern leihweise geliefert. Dadurch war es nicht weiter tragisch, dass sich der Duschrollstuhl in unserem Falle nicht bewährt hatte. Wenn ich Tosca eingeseift hatte, wurde es in der Duschmulde lebensgefährlich rutschig. Einmal rutschte meine Patientin sogar aus dem Pflegerollstuhl halb nach unten. Dass ich sie wieder hochziehen konnte, wundert mich heute noch, denn alles war von Seife rutschig und glitschig. Ich sah mich bald veranlasst, das Gerät, das einmal sogar samt Patientin in der Duschmulde umgekippt war, zurückzugeben und war froh, dass der dafür benötigte Stellplatz im Badezimmer wieder frei war.
Später konnte ich die ebenfalls leihweise erhaltenen Geräte, den Pflegerollstuhl, den Pflegebett-Einsatz, und schließlich am Ende auch das Pflegebett wieder zurückgeben. Alles ging reibungslos von statten. Auf den Pflegebett-Beistelltisch, den ich zusammen mit dem Pflegebett beantragt hatte, wartete ich allerdings bis zuletzt vergebens.
Im Januar 2015 wurde der neue Pflegerollstuhl von unserer Physiotherapeutin Sigrun eingeweiht. Tosca erlebte dies sehr bewusst. Die Therapien konnten jetzt im Erdgeschoß stattfinden. Der lange nicht mehr genutzte Garten wurde wieder erreichbar.
Sigrun ist mir einfach sympathisch. Sie begleitet mich, wenn ich im Treppenlift nach unten schwebe, was mir immer unheimlich ist, weil der Sitz ruckelt und weil es immer ein bisschen zu schnell um die Kurven geht. Sie spricht so nett mit mir, wenn sie mit mir arbeitet. Die halbe Stunde ist immer viel zu schnell vorbei, und ich freue mich schon auf das nächste Mal.
Toscas heitere Gedanken wurden in der Realität des Krankenzimmers immer wieder von dunklen Wolken überschattet. Am 15. Dezember 2014 war sie um Mitternacht nicht ansprechbar. Auf meine Bitte, ihr rechtes Bein zum Umdrehen anzuheben, zeigte sie keine Reaktion. Ich bekam Angst, weil ich nicht wusste, was in ihrem Kopf vorging. Um meine Angst zu überwinden, versuchte ich, in sie hineinzusehen.
Daran musste ich immer wieder denken, wenn ich mein Häschen betreut hatte, das nun nach fast 15 Jahren gestorben ist. Mein Puma erzählte, es sei vor Altersschwäche in seinen Armen eingeschlafen. Als ich von ferne so etwas wie „Bein bewegen“ höre, kann ich das einfach nicht. Ich probiere ein paarmal, da wird das Nordlicht wieder lebendig, und ich komme auf andere Gedanken, die mir aber dann in tiefer Dunkelheit verschwimmen.
Mit dieser Interpretation redete ich mir ein, dass es sich bei Tosca um nichts Schlimmes handeln konnte. Man sollte um Mitternacht rücksichtsvoller sein. Ich beruhigte mich. Allerdings begann ihr Harndrang, mir immer mehr zu schaffen zu machen. Den kürzesten Ab-stand zwischen zwei Toilettenbesuchen erlebte ich nachts am 20. Januar 2015. Er betrug 25 Minuten, um 03:20 Uhr zur Toilette, und um 03:45 Uhr, kaum im Bett zurück, schon wieder. Tags darauf folgte eine schreckliche Nacht. Von 01:00 Uhr bis 03:30 Uhr wurde ich dauernd wachgehalten. Tosca musste ständig zum Umdrehen auf die andere Seite bewegt werden und klagte über Schmerzen im Oberschenkel. Trotz der Medikamente gegen Blasenentzündung musste sie spätestens nach zwei Stunden wieder auf die Toilette, und das rund um die Uhr und noch weiter so bis Mitte Juli 2015.
Als Amateurpfleger suchte ich immer wieder nach anderen professionellen Betreuungsmöglichkeiten. Ich nutzte das Internet und vor allem YouTube zur Weiterbildung und informierte mich auf diese Weise zum Beispiel über die sachgemäße Verwendung und Entsorgung von Windeln in der Patientenpflege.
Die Super-Seni-Maxiwindeln, die ich auf Rezept im Sanitätshaus erhielt, erwiesen sich als sehr saugfähig. Um die täglich bis zu zwei Liter Urin aufzufangen, benötigte ich im Schnitt zweieinhalb frische Windeln täglich, und das dreiunddreißig Monate oder fast 1000 Tage lang bis zur Einführung der Urinentsorgung mit Hilfe von Katheter und Urinbeutel am 15. Februar 2018. Unser neuer Hausarzt, Dr. Löwe, Facharzt für Urologie, wies mich in den Umgang mit den Windeln ein. Mein Protokoll weist 2.562-mal die Signatur >I< aus, die für Inkontinenzartikelwechsel steht. Für eine derartige Aussage kam mir die Software von Microsoft Word zugute, ich musste nicht auszählen, nur „>I<“ suchen, und schon hatte ich die Zahl. Hinter ihr steht eine gewaltige Pflegeleistung.
Auch für Tosca bedeuteten die Windeln und dann später der Katheter eine große Erleichterung. Patientin und Pfleger wurden entlastet, was die immer schwieriger werdende Pflege etwas kompensierte. Die von mir so genannte Nasstechnik erfuhr dann mit der Einführung der Kathetertechnik einen letzten, sehr großen Erleichterungsschub. Der weiter steigende Pflegeaufwand beim Übergang von der beschützenden Palliativpflege zur noch anspruchsvolleren Hospizpflege, die man auch Sterbebegleitung nennt, erfuhr so nochmals eine gewisse Kompensation.
Gerade eben hat mir mein Puma erzählt, dass wir jetzt von der blauen Phase, in der ich so wahnsinnig oft auf die Toilette geführt worden war, in die grüne Phase wechseln. Die grüne Farbe, die Farbe der Hoffnung, hat er gewählt, weil wir jetzt ja so oft im Erdgeschoss sind, was er in seinem Protokoll immer mit grüner Farbe unterlegt.
Gartensiestas (2016), die Grüne Phase
Der Übergang von der blauen in die grüne Phase war für uns spektakulär. Die blaue Treue durfte gerne verweilen, aber die grüne Hoffnung keimte nun auf. Ich stellte mir vor, dass Tosca bald wieder gesund werden würde. Sie erlebte damals einen bei uns traditionellen Jahreswechsel mit stimulierenden Ereignissen in vertrauter Umgebung und beruhigender Zweisamkeit.
Am 31. Dezember 2015 gab es um 17:20 Uhr im Esszimmer ein Silvester-Abendessen mit „selbst gekauftem“ statt selbst gemachtem rotem Heringssalat, Brot und Weißwein. Um 18:40 Uhr sahen wir im Wohnzimmer einen DVD-Film auf unserem großen, neuen Samsung-Monitor an, gefolgt von Tagesschau und Rückkehr über den Treppenlift zum Schlafzimmer.
Am Neujahrsmorgen wachte ich ohne Kater auf. Ich war zwar müde, weil ich um Mitternacht eine vierzigminütige Betreuungsaktion auf dem Dusch-WC und um halb sechs Uhr früh eine weitere von fünfundvierzig Minuten mit Waschen und Windelwechsel hatte, aber wir konnten am späten Nachmittag im Wohnzimmer am großen Bildschirm ein Neujahrskonzert aus Venedig genießen, das sich aus der Soundbox mit Subwhoofer wie im Konzertsaal anhörte. Anschließend gab es im Esszimmer ein Neujahrsabendessen. Nach diesem festlichen Neujahrstag hielt ich meine Hoffnung auf eine baldige Genesung meiner lieben, geduldigen Patientin für gerechtfertigt.
Den ganzen Januar 2016 über fand entweder ein Mittagessen oder ein verspäteter Brunch im Esszimmer statt, auf die fast immer eine Siesta folgte, die Tosca behaglich im Pflegerollstuhl mit mir daneben in einer Liege verbringen konnte.
Zu ihrem 77.ten Geburtstag am 4. Februar 2016 luden wir Toscas beste Freunde Charlotte und Carlos ein, und meine Freunde Ferhad und Armin ergänzten die Runde. Als leidenschaftliche Läufer erzählten diese mitreißend von ihren Berg- und Marathonläufen und anderen sportlichen Ereignissen. Ferhad mit ihren blonden Stoppelhaaren und ihrem sportlichen Körperbau sprach über Wettläufe und ihre vielen Trophäen. Der große und schlanke, schwarzbärtige Armin mit seiner Baskenmütze bekam leuchtende Augen, wenn er von ihren überall in Europa stattfindenden Aktionen erzählte, von Bergläufen, Halb- und Marathonläufen.
Armin war zum Vorsitzenden der Umweltvereinigung Kinderregenwald Deutschland e.V. gewählt worden, welche Kontakte nach Costa Rica, Peru und Ecuador unterhält, nachdem Tosca dieses zehn Jahre ausgeübte Amt aus gesundheitlichen Gründen im Jahr 2014 hatte abgeben müssen.
Charlotte gehörte seit Jahrzehnten traditionell zu Toscas Geburtstag. Tosca hatte mit Charlotte seit ihren gemeinsamen pädagogischen Studien Freundschaft geschlossen und es vergingen seither keine vier Wochen, bevor sie uns wieder besuchte. Auch für mich war sie immer eine gute Freundin. Zwischen uns hatte es von Anfang an geknistert, und ich hatte sogar ein bisschen zwischen Tosca und ihr geschwankt. Charlotte mit ihren immer leuchtend rot gefärbten Haaren, die oft mit einem Stirnband gefasst waren, erzählte gerade von Radtouren mit Carlos auf ihren sportlichen Fahrrädern und von ihrem Fitnesstraining im Studio.
Carlos – markanter Schnauzbart, früher schwarz, heute immer noch markant, aber grau, ist für mich einer der besten Freunde – einer von denen, die man auch morgens um vier Uhr anrufen kann, wenn man sie braucht. Er berichtete von seinen neuesten Erfolgen beim Amateurtennis. Als professioneller Technikpädagoge konnte er sein Hobby analysieren und seine Technik perfektionieren. Wir sechs saßen in dieser freundschaftlichen Runde entspannt am vergrößerten Esstisch, und alle konnten sich vorstellen, dass Tosca bald wieder auf die Beine kommen würde.
Der trügerische Friede hielt nur eine Woche. Er änderte sich schlagartig, als ich mich hilflos mit einer unbekannten Situation konfrontiert sah. Tosca war bei meinem Versuch, sie mittags vom Treppenlift im Nackengriff in den Pflegerollstuhl zu heben, ohnmächtig geworden, meinem Griff entglitten und längelang auf dem kalten, gekachelten Fußboden des Treppenhauses zu liegen gekommen. Mein erster Gedanke war Schlaganfall. Über Hausnotruf forderte ich Krankenwagen und Notarzt an. Die Symptome schienen zunächst meinen Verdacht zu bestätigen. Der Notarzt stellte eine leichte, halbseitige Lähmung rechts fest. Weiter wollte er sich nicht äußern. Jetzt hieß es abwarten.
Ich fuhr dem Krankenwagen hinterher in die Oberschwabenklinik. Nach geduldigem Warten am Krankenbett schlug Tosca die Augen auf, und es erfolgte dieser, aus meinem Protokoll wörtlich übernommene Kurzdialog: „Wer sind Sie?“ „Ich bin doch Puma, erkennst Du mich nicht?“ „Ja Puma. Können Sie mich noch ein bisschen schlafen lassen?“ „Du kannst ruhig Du zu mir sagen.“ Da war sie schon wieder eingeschlafen. Mir war ein Schreck in die Knochen gefahren. Was ging bloß in ihrem Kopf vor?
Nachdem ich erfahren hatte, dass die CT, die Computertomographie, keine Hinweise auf einen Schlaganfall ergeben hatte, und dass die Symptome eher auf Alzheimer im frühen Stadium und auf einen epileptischen Anfall hinweisen würden, hatte der unheimliche Vorfall wenigstens einen Namen. Alzheimer war in meiner Vorstellung eine Alterserscheinung und Epilepsie mit Schreikrämpfen und Schaum vor dem Munde verbunden gewesen. Wieder zu Hause informierte ich mich in Sachbüchern und im Internet über Alzheimer und Epilepsie. Unter den vielen Erscheinungsformen der Epilepsie fand sich auch das, was ich mit Tosca erlebt hatte. Ich war den Fachärzten der Stroke Unit dankbar, zugleich aber auch tief erschrocken. Störungen im Gehirn bedeuteten eine sehr schwere Erkrankung mit einem breiten Fächer möglicher Auswirkungen, unter anderem auf Veränderungen an Seele und Charakter.
Beim dritten meiner täglichen Besuche fand ich Tosca auf der Intensivstation sehr erregt, aber nicht ansprechbar. Ich brauche den großen Koffer. Vergiss‘ nicht die Flugscheine und die Reisepässe. Denke an die Sonnencreme, den Sonnenhut, meine und deine T-Shirts, meine Badeanzüge und Bikinis, den Schlüssel zum Conejo, den Roo, den Rascal, den Eukalyptus, Sandy und Schnauz, deinen Führerschein, die Rollstuhlreservierung und den kleinen Koffer mit einem Karton Naturführer.
So interpretierte ich ihre Unruhe, als Erinnerungen an Vorbereitungen zu den Flugreisen nach unserer Ferienwohnung auf Fuerteventura, von denen die letzte nur zweieinhalb Jahre zurücklag. Roo, Rascal, Eukalyptus, Sandy und Schnauz waren ihre beliebtesten Kuscheltiere, ein Känguru, ein Waschbär, ein Koala, der das Lied Waltzing Matilda spielen konnte, ihr kleiner schwarz-weißer Schnauzer Schnauz und mein kleiner sandfarbener Spaniel Sandy.
Der vierte und letzte Tag auf der Intensivstation war der Valentins-Sonntag. Ich brachte ihr Märzenbecher in einer selbst gefertigten kleinen verschließbaren Spezialvase aus unserem Garten mit, worüber sie sich freute. Ich reichte Tosca ihr Mittagessen zu und aß selbst mit. Ich hatte sie sitzend und lesend angetroffen. Sie war jetzt viel besser gegenwartsorientiert. Am Bett hing ein externer Urinableiter, ein Katheter, den ich argwöhnisch betrachtete, weil ich mich vor einer Harnwegsinfektion fürchtete. Damals konnte ich noch nicht wissen, dass der Katheter später etwas ganz Normales für sie werden würde.
Ich beobachtete, wie sie von zwei Krankenschwestern ins Bett zurückgelegt wurde. Ich hatte dies bisher allein getan, ebenso wie den mehrmals täglichen Seitenwechsel. Das war Anschauungsunterricht zur Ursache meiner ständigen Rückenschmerzen. Anschaulichkeit mit Hilfe aller denkbaren Medien, und lebendiger Kontakt zur Füllung sonst leerer Begriffe mit Leben, gehörten zu den Grundlagen meiner Lehrtätigkeit. So konnte bei meinen Studierenden kaum Langeweile aufkommen, so wenig, wie ich mich während meiner gesamten Tätigkeit als Amateurpfleger langweilte.
Nach einer Woche war mein wie man heute sagen würde Home-Office beendet. Tosca war wieder zu Hause und begann sich auf den gewohnten Alltag der grünen Phase einzustellen. Das Durchgangssyndrom oder Delir, wie man die Verwirrung älterer Patienten nach einem Klinikaufenthalt nennt, verschwand.
Doch der einkehrende Friede erwies sich als trügerisch. Nur vier Tage nach dem Klinikaufenthalt musste ich bei Tosca Blut im Urin feststellen, zuerst noch als Andeutung, aber dann immer kräftiger. Im Krankenhaus war es zu einer Blaseninfektion gekommen – ein Vorwurf für das Krankenhauspersonal. Dreißig Mal notierte ich im Protokoll Blut im Urin. Gut zwei Wochen lang hatte ich Angst vor einer lebensgefährlichen aufsteigenden Infektion in das Nierenbecken. Davor blieben wir jedoch verschont. Dr. Murphy hatte ein spezifisches Antibiotikum gegen Harnwegsinfekt verschrieben. Als er zwei Wochen später zum Hausbesuch kam, war die Entzündung bereits am Abklingen. Das Immunsystem hatte wieder die Oberhand gewonnen.
Auf Anraten von Dr. Murphy meldete ich Tosca vorsorglich im Haus Judith der Santa Anna Hilfe Weingarten an. Bei einer Notlage würde ich sie dort kurzfristig abgeben können. Aber mein Ehrgeiz war nun hellwach. Meine Schwägerin Elise hatte mir geraten, Hilfe zu holen, das mache sonst keiner allein. Da war ich anderer Meinung. Warum sollte das, was ich für selbstverständlich hielt, für Andere nicht genauso sein. Ich hatte damals außer Physiotherapie und Hausarzt tatsächlich keine Hilfe nötig.
Ein kurzer Ohnmachtsanfall zwischen Mittagessen und Siesta erinnerte mich an die vor kurzem erhaltene Diagnose Epilepsie. Umso vorsichtiger ging ich bei den vielen Ortswechseln vor. Mit einem Blackout musste ich nun immer rechnen.
Wenn die Saugkraft der Windel nicht ausreichte, waren sehr häufig Bett und Schlafanzug nass. Oft half ich mir dann mit dem Fön. Gegen weiteres Durchnässen schützten eine oft gewechselte Unterlage, wie sie auch in Krankenhäusern üblich ist, und ein wasserdichtes Spannlaken, das ich häufiger als die Bettwäsche wechselte. So blieb die Matratze trocken. Die Wäscheleinen im Heizungsraum waren fast ständig belegt.
Immer wieder war ich nahe daran, den Pegasus aufzubauen. Tosca war mir vor der Toilette auf den Teppichboden gerutscht, und ich konnte sie zwei Mal gerade noch ins Bett zurückbringen. Sie war schwerer geworden, kein Wunder bei dieser Lebensweise. Ich schleifte sie auf dem Teppichboden ins Schlafzimmer. In dem schmalen Zwischenraum zwischen Bett und Wand legte ich sie quer zum Bett auf eine Kissenrolle, stemmte mich mit dem Rücken gegen das Bett und mit den Füssen gegen die Wand, und konnte sie so im Nackengriff an mir hochziehen und mit dem Oberkörper auf die Matratze legen. Ein Drama, das jedes Mal fast eine Stunde dauerte.
Inzwischen war das bestellte Schlepptuch angekommen, und ich führte die beschriebene Rettungsaktion im Juli noch zweimal allein durch, wobei ich mich beim zweiten Mal mit meiner Hand zwischen Tosca und der Bettumrandung stark am Handrücken verletzte. Dabei ging es mir fast über die Kräfte. Am 31. Juli vormittags lag Tosca wieder vor mir auf dem Fußboden, und ich schaffte es nicht mehr, sie allein zurückzubringen. Mein Nachbar Tiger half mir bereitwillig. Ich nahm mir aber vor, den Pegasus einzusetzen, wenn es wieder nachts passieren würde.
Tosca war inzwischen in die höchste Pflegestufe eingestuft worden, damals die Pflegestufe III, bei ihr mit besonders erschwerenden Merkmalen. Für den beantragten und rasch bewilligten Schwerbehindertenausweis wurde ein Passfoto verlangt, das ich selbst aufnahm. Dieses mir so liebe Gesicht hatte sich seit Beginn der Pflegebedürftigkeit im Oktober 2014 sehr stark verändert. In den Gesichtszügen kamen nun eine Anspannung und ein Ernst zum Ausdruck, die mir neu waren. Dabei war sie damals noch normal ansprechbar.
Das Passfoto spricht dafür, dass die Erkrankung an Alzheimer bereits von ihr Besitz ergriffen hatte. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass die Gehirnregionen verschont geblieben waren, die ihr liebenswürdiges Wesen betrafen. Ich hatte immer wieder von Fällen gehört, in denen diese Erkrankung zu Aggression und Abwendung von den betreuenden Personen geführt hatte. Wie schwer musste dies für die jeweiligen Nächsten sein.
Alois Alzheimer (1846-1915), Psychiater, nannte die Erkrankung Krankheit des Vergessens. Er beschrieb den Verlauf in sieben Stufen, von denen Tosca sehr rasch die höchste erreicht hatte. Die zehn Symptome trafen alle auf sie zu. Die Prognose war, dass die Erkrankung bei schleichendem Verlauf nach durchschnittlich 8-10 Jahren, in Extremfällen nach 3-20 Jahren zum Tode führen würde. Der Tod würde spätestens dann eintreten, wenn das Atemzentrum betroffen sein würde. Ein Heilmittel gegen die Eiweißablagerungen in den Gehirnganglien, die zum Untergang der betroffenen Nervenzellen führten, war immer noch nicht gefunden worden. Ob ein solches je gefunden werden würde, beispielsweise mit Hilfe der modernen Genschere CRISPR Cas 9, stand in den Sternen.
Meine liebe Tosca, die Liebe meines Lebens, war nicht mehr zu retten. Für mich konnte es jetzt nur noch darum gehen, ihr Leben so lange wie möglich zu verlängern. Das war eine deprimierende Erkenntnis, konnte aber auch ein Ansporn für eine optimale Betreuung sein.
Am 31. August 2016 war Tosca abends vom Rollstuhl gerutscht, als ich sie ins Bett zurücklegen wollte. Die Feuertaufe für den Pegasus konnte beginnen. Ich schob ihr den Tragegurt mit Griffen unter das Gesäß und zog sie vor den bereitgestellten Pegasus. Hinter dem Gerät stehend, musste ich sie in die Sitzposition ziehen. Jetzt konnte ich die Kurbel zum Hochdrehen zwischen den Oberschenkeln durch die dafür vorgesehene Öffnung in der Sitzfläche in die Kupplung stecken und mit dem Hochdrehen beginnen. Langsam bewegte sich Tosca nach oben bis auf die Höhe der Bettumrandung. Bis zur Matratze fehlten noch einige Zentimeter. Mit jeder Kurbeldrehung wurde das System labiler. Vorsichtig drehte ich sie mit Oberkörper und Knien gegen die Matratze. Da lag sie schon wieder auf dem Teppichboden.
Mit der gewonnenen Erfahrung machte ich einen zweiten Versuch, der diesmal erfolgreich verlief. Ich konnte mir nur wünschen, dass ich nicht zu oft in diese Situation kommen würde. Beim nächsten derartigen Notfall würde ich wohl Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Dafür gab es den Hausnotruf und das Deutsche Rote Kreuz.
Nur eine Woche später trat dieser Notfall ein. Auf dem Weg vom Wohnzimmer zurück ins Bett musste ich Tosca täglich vom Pflegerollstuhl im Nackengriff auf den Treppenlift heben. Meine schwere Patientin entglitt mir und landete auf dem Kachelboden des Treppenhauses. Konstruktionsbedingt weist unser Treppenlift an dieser Zwischenstation im Erdgeschoß mit 62 cm den größten Abstand zum Fußboden auf. Mit dem Pegasus erreichte ich maximal 42 cm Höhe. Ich schaffte es nicht, die Differenz von 20 cm im Nackengriff zu überbrücken.
Meine telefonisch herbeigerufene liebe Nachbarin Eugenie gab ihr Bestes. Obwohl wir jetzt zu zweit waren, mussten wir aufgeben. Mir blieb nichts anderes übrig, als den DRK-Rettungsdienst über den Hausnotruf um Hilfe zu bitten. Zwei Rotkreuzhelfer konnten das Problem schließlich lösen.
Nach diesem denkwürdigen 10. September 2016 lebte ich in ständiger Angst vor einer Wiederholung der Tragödie. Der Einsatz des Rettungsdienstes war ohne zusätzliche Kosten über das monatliche Abonnement abgedeckt, aber doch sehr aufwändig und kräftezehrend. So etwas sollte sich möglichst nicht wiederholen. Auf die Sonnenstunden der täglichen Siestas im Garten wollte ich aber auch nicht verzichten. Vielleicht war ein Pflegedienst eine Lösung.
Anfang Juni hatte sich Toscas Allgemeinzustand dramatisch verschlechtert. Sie konnte nicht mehr stehen, wenn ich sie im Nackengriff hielt, sondern sackte einfach in sich zusammen. Sie konnte auch nicht mehr auf der Bettkante sitzen. Deshalb bat ich unseren Hausarzt Dr. Löwe um einen Hausbesuch. Das Ergebnis seiner Allgemeinuntersuchung beruhigte mich. Bei seinem zweiten Hausbesuch einige Wochen später traf er zufällig mit der Beraterin unserer privaten Krankenversicherung zusammen. Ich war dankbar, meine Amateurpflege mit Fachleuten diskutieren zu können. Das Gespräch fand in spätsommerlicher Atmosphäre in unserem sonnigen Garten statt. Beide Gesprächspartner fanden die Idee mit dem mobilen Pflegedienst richtig.
Die Leiterin des mobilen Pflegedienstes, Kateryna Tasci, machte sich schon tags darauf bei einem rasch organisierten Besuch ein Bild von der Pflegesituation. Ich schloss mit ihr einen Pflegevertrag mit je einem Einsatz am Morgen und am Abend ab. Noch am gleichen Abend übernahm eine Mitarbeiterin des mobilen Pflegedienstes, der Prototyp einer Betreuerin, die „Kleine Abendwäsche“, die im Protokoll als KAW eingetragen ist.
Von jetzt an ging es recht turbulent bei uns zu. Ich nützte die Situation aus, indem ich den verschiedenen Pflegekräften bei der Arbeit zusah. Das erinnerte mich an die Seminare und Praktika aus meiner Zeit als Hochschullehrer. Mit Immanuel Kant war ich der Überzeugung, dass Anschauung das Prinzip aller Erkenntnis ist.
Ich lernte sehr nette und liebenswürdige Menschen kennen, zwei Männer, einer davon ein AZUBI, und sechs Frauen, ebenfalls ein-schließlich einer AZUBI. Abgesehen von einem Termin, an dem sich die Betreuerin das Haarewaschen vorgenommen hatte, und deshalb eine halbe Stunde früher kam, fand der morgendliche Besuch pünktlich um 8:30 Uhr statt.
Ich stand damals immer um 4:45 Uhr auf, machte eine halbe Stunde Frühsport, ging unter die Dusche und begann dann um 7:00 Uhr bei Tosca mit der Morgentoilette, mit Windelwechseln oder was sonst noch anstand. Tosca war dann so weit vorbereitet, dass die mobilen Pflegekräfte mit den leichteren Tätigkeiten wie Zähneputzen, Waschen und Eincremen beginnen konnten. Dazu gehörte auch die Seitenlagerung. Einmal wurde ich gebeten, dies wegen Rückenschmerzen der Pflegekraft selbst zu machen. Das war zwar verständlich, aber doch paradox. Eine der Betreuerinnen ging mir richtig auf die Nerven. Sie war offensichtlich froh, jemanden zum Zuhören gefunden zu haben, und redete unaufhörlich.
Ich stellte nach elf Tagen Erfahrung mit dem mobilen Pflege-dienst die Kosten-Nutzen-Rechnung auf und kam zu dem eindeutigen Ergebnis, dass für mich in meiner persönlichen Situation die Kosten deutlich höher lagen als der Nutzen. Deshalb rief ich bei Kateryna Tasci an und bat sie, den Vertrag bis auf weiteres ruhen zu lassen. Dem wurde entsprochen.
Am 15. Juni meldete sich morgens eine unbekannte weibliche Stimme am Telefon. Ich fragte, wer sie sei, ich kenne sie nicht, und er-hielt die flotte Antwort: „Sie werden mich gleich kennenlernen. Ich gehöre zum mobilen Pflegeteam“. Es wäre die neunte Betreuungshilfe gewesen. Ich sagte ihr, sie würde mich nicht mehr kennenlernen, der Vertrag ruhe.
Tosca schrie vor Schmerz auf, weil ich sie wieder einmal versehentlich mit einer harten Bettkante oder einer rauen Wand in unsanfte Berührung gebracht hatte. Ihre Beine waren damals immer von Schürfwunden und kleinen Blutergüssen bedeckt. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ich gezwungen sein würde, sie überhaupt nicht mehr aus ihrem Bett zu nehmen.
Für eine bettlägerige Patientin war ich nicht gerüstet. Wieder nahm ich YouTube in Anspruch und ließ mir vorführen, wie Zähne putzen, einkremen und waschen, insbesondere Haare waschen, in liegender und sitzender Position durchgeführt werden können.
Ich besorgte einen kleinen Betttisch mit einklappbaren Beinen, eine halbrunde Waschschüssel mit 2 Teilbecken und Ablage und eine Munddusche. Diese hatte Netzanschluss, Wassertank und Druckschlauch. Sie erwies sich bald als sehr unpraktisch. Das Nachfolgemodell war batteriebetrieben, wodurch man nicht mehr an das Hantieren mit dem Stromkabel gebunden war. Später hatte ich dann ein sehr praktisches Modell, bei dem Akku und Wassertank im Handgerät untergebracht waren.
Ich ließ damals über das Internet aus China eine Kopfwaschschüssel kommen, die ich mit Lungenkraft aufblies. Auf einem Plastikboden mit Ablassschlauch und Ventil waren zwei aufblasbare Plastikringe montiert, von denen der obere hufeisenförmig geöffnet war, um den Hals einer auf dem Rücken liegenden Person aufzunehmen. In der Praxis erwies sich dieses wichtige Hilfsmittel als wenig stabil. Die erste Ausführung hielt nur einige wenige Einsätze aus. Ich hatte ein Ende des offenen Ringes unvorsichtig angehoben. Der Ring riss auf, und ich musste Ersatz bestellen. Spätere Ausführungen wiesen immer wieder Verbesserungen auf, weswegen ich für die chinesischen Ingenieure große Sympathie empfand.
Am 2. Oktober 2016 wusch ich meiner inzwischen voll bettlägerigen Frau zum ersten Mal die Haare in liegender Position. Zwei Wochen zuvor war das alte, starre Bett aus dem Rahmen genommen und durch einen komfortableren Einlegerahmen ersetzt worden. Jetzt konnte man mit einer Handsteuerung die Höhe der Matratze ändern und den Rücken bis zur Sitzposition aufrichten und wieder flachlegen.
Nachdem ich Handtücher, Shampoo, Föhn, Haarbürste und warmes Wasser bereitgestellt hatte, schob ich die Waschschüssel unter den Kopf, goss behutsam Wasser über die Haare, wusch sie mit Shampoo nach dem Prinzip so viel wie nötig, so wenig wie möglich, spülte sie und trocknete sie mit einem Handtuch. Den Ablaufschlauch der Kopfwaschschüssel benutzte ich nicht. Da hätte ich noch einen Eimer unterstellen und lange auf die langsame Entleerung warten müssen. Stattdessen balancierte ich die Waschschüssel samt Inhalt am Ende der Prozedur zum Waschbecken im nahen Badezimmer, wo ich sie auch gleich reinigen und trocken konnte.
Anschließend ging es mit Elektromotor bequem in die Sitzposition. Für mich wurde es jetzt deutlich unbequemer. Glücklicherweise war ich schlank und beweglich genug, um mich hinter den Kopfrost in den Bettrahmen zu klemmen. Das Lordose-Stützkissen musste ich nur etwas höher hinter die Schulterblätter ziehen, und schon war genügend Spielraum für meine amateurhafte Frisörtätigkeit geschaffen. Ich hatte beim Frisör genau beobachtet, wie man mit Föhn und Rundbürste umgeht, und hatte mir auch einen professionellen Haarföhn und die Rundbürste besorgt. Tosca war damals fast immer geistig präsent und konnte auch ihre Wünsche äußern.
Das Waschen der Haare gefiel ihr offensichtlich gut. Die Unterbrechung der langen Liegezeiten brachte ihr etwas Erleichterung. Medizinisch gesehen musste es für sie auch deshalb vorteilhaft sein, weil es prophylaktisch gegen den gefürchteten Dekubitus wirkte, die Hautentzündung als Folge langen Liegens. Ich plante das Haarewaschen in die sonntägliche Körperpflege mit Waschen, Zähneputzen, Eincremen, Maniküre und Pediküre ein, was dann zusammen durchschnittlich drei Stunden dauerte.
Über die Jahre hinweg hatte der Sonntag damit eine neue Bedeutung gewonnen und die wöchentliche Pflegetätigkeit erhielt eine für die zeitliche Orientierung im routinemäßigen Pflegealltag willkommene Zäsur. Schon vor Toscas definitiver Bettlägerigkeit hatte ich mich sonntags immer länger als werktags um ihre Körperpflege bemüht, und nun konnte ich dies auch in der neuen Situation beibehalten. Mit Hilfe der Suchfunktion von Windows entnahm ich meinem Pflegeprotokoll, dass ich Tosca 205-mal die Haare im Bett gewaschen habe, was wegen der entsprechenden Anzahl von 205 Sonntagen einem Zeitraum von ca. 4 Jahren entsprach und eine reine Arbeitszeit von mehr als 600 Stunden oder dreieinhalb Wochen bedeutete.
Die Bettlägerigkeit brachte neue Anforderungen mit sich. Dazu gehörte an erster Stelle die Seitenlagerung. Bei Toscas Krankenhausaufenthalt hatte ich gesehen, wie die Krankenschwestern dabei vorgingen, wobei sie meist zu zweit waren. Die einfachste Form war das Unterlegen der seitlich angehobenen Person mit einem zur Rolle geformten Laken. Um dies zu vereinfachen, besorgte ich mir ein längliches Seitenlagerungskissen in der Form des berühmten Seeungeheuers von Loch Ness. Mit diesem von mir Nessie genannten Kissen konnte man die Seite rasch variabel wechseln.
Beginnend mit dem 11. Oktober 2016 erscheint das Symbol >S< für Seitenlagerung 1864-mal in meinem Protokoll und erweist sich da-mit im Rückblick als eine der wichtigsten Betreuungshandlungen überhaupt für mich als Pfleger. Ich war dabei auf mich allein angewiesen. Seitlich stehend setzte ich meine volle Körperkraft ein, um meinen Rücken so wenig wie möglich zu überanstrengen. Rückenschmerzen gehören wohl zum Alltag vieler in der Pflege tätiger Personen.
Als ich einmal, wie berichtet, probeweise einen mobilen Pflegedienst für ein paar Tage zu meiner Entlastung beauftragt hatte, bat mich eine der Betreuerinnen, die Seitenlagerung wegen ihrer Rückenschmerzen zu übernehmen. Da wurde mir bewusst, dass ein Bandscheibenvorfall das Ende meiner Pflegetätigkeit hätte bedeuten können. Und ich wollte Tosca doch so gut pflegen, dass sie mich schließlich überleben würde. Ich konnte mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen.
Ich hatte in meinem 40. Lebensjahr mit einer täglichen halbstündigen Frühgymnastik mit Schwerpunkt Rücken begonnen, als ich zum ersten Mal beim Einsteigen in mein Auto starke Rückenschmerzen bekam. Ich hatte gedacht, wenn ich jetzt nicht konsequent gegensteuere, kann mir das später schwer zu schaffen machen. Dies erwies sich als richtige Entscheidung von großer Tragweite, die mir jetzt zugutekam. Als Frühaufsteher hatte ich mir damals angewöhnt, mit dem Wecker um 04:45 Uhr aufzustehen und vor dem täglichen Duschen mein Workout im Hobbyraum zu absolvieren. Als der Hobbyraum später zu einer Einliegerwohnung umgebaut wurde, verlegte ich den Frühsport in das Erdgeschoß. Dort konnte ich den Wechsel der Mondphasen und der Jahreszeiten stärker erleben. Bei klarem Wetter sieht man jenseits des eiszeitlichen Schussenbeckens im Südosten in zwölf Kilometer Entfernung auf dem Höhenrücken des Altdorfer Waldes die Waldburg.
Während ich mich zuvor im Hobbyraum zwischen wechselndem Mobiliar trainieren konnte, was auch immer ein mentales Training bedeutete, rannte ich nun meine anfänglichen Runden, wie ich es auch bei meinem Zwerghäschen Amigo2 gesehen hatte, über die ausliegenden Bodenteppiche mit kurzen Sprüngen über die Zwischenräume. Der dabei verspeiste Apfel ersetzte die Sanduhr. War er aufgegessen, kam beim Bodenturnen das härtere Workout an die Reihe Dies ging so lange gut, bis ich mich beim Laufen in einen der Bodenteppiche verhakte und schmerzhaft stürzte. Konsequent entfernte ich daraufhin alle Bodenteppiche, eine Standardmethode der Sturzprophylaxe. Ich erinnere mich gerne an den Duft des Eichenholzparketts, wenn sich die Nase bei den Liegestützen dem nackten Parkettboden näherte. Nach der Frühgymnastik war ich den Anforderungen des kommenden Pflegetages gewachsen.
Am 16. Oktober 2016 wurde ich unsanft aus der Routine des Pflegealltags gerissen. Ich hatte abends wieder Blut im Urin festgestellt und Dr. Löwe informiert, der wie gewohnt hilfsbereit reagierte und bei einem kurzfristig eingeschobenen Hausbesuch ein Rezept über das schon bekannte Antibiotikum gegen Blasenentzündung ausstellte. Dabei handelt es sich um „ein Antibiotikum, das die Bakterien abtötet, die die Blasenentzündung (…) verursacht haben“ (Zitiert aus Internet). Nach fast einer Woche begann das Medikament zu wirken und die Blasenentzündung klang allmählich ab.
Schon am 1. November meldete sich die Krankheit zurück, diesmal mit voller Wucht. Beim Hausarzt meldete sich eine Stimme auf Band: Unsere Praxis ist geschlossen. Wir machen Urlaub. Der Stellvertreter, Dr. Liebert, versprach, so schnell wie möglich vorbeizukommen. Tosca war sehr unruhig. In der Nacht zum 3. November rief sie wiederholt laut: „Kann ich mal raus?“
Als Dr. Liebert gegen 16:00 Uhr das Krankenzimmer betrat, zögerte er kurz. Er hatte die Krankheit gerochen, bevor er die Patientin kurz untersuchte und unverzüglich über die Notrufnummer 19222 Krankenwagen und Notarzt anforderte. Meine nicht geringe Achtung vor den vielfältigen Anforderungen an die fachliche und menschliche Kompetenz der Allgemeinärzte und -ärztinnen hatte eine Verstärkung erhalten.
Tosca hatte vormittags einen epileptischen Anfall erlitten, der immer noch anhielt, und war nicht ansprechbar. Ich fuhr sofort dem Krankenwagen hinterher, ging in die Notaufnahme und stand dort schon kurz vor 17:00 Uhr für Auskünfte zur Verfügung. Tosca kam für einen Tag in die Überwachungsstation der Urologie und erhielt vorübergehend einen Blasenspülkatheter über die Harnröhre. Zusätzlich wurde sie mit einem antibiotisch wirkenden Medikament behandelt. Über das Wochenende verblieb sie in der Urologie, wo ich sie zweimal täglich besuchte. Ihr Allgemeinzustand verbesserte sich zusehends. Am Dienstag war sie wieder zu Hause und erhielt ab Mittwoch für 5 Tage eine Nachbehandlung mit einem weiteren Antibiotikum.
Im Krankenhaus hatte ich den Gebrauch der Bettschüssel Cleanius kennengelernt. Dieses in blauer Plastik mit Deckel ausgeführte Gerät überzeugte mich so, dass ich es mir über das Internet besorgte. Bei Obstipation, Verstopfung, konnte ich nun unbesorgt mit Klistier und einem schonenden Abführmittel, gegensteuern.
So ganz einfach war dies jedoch nicht, obwohl ich inzwischen gut mit dem Klistier umgehen konnte, nachdem mich Dr. Löwe darin unterwiesen hatte. Der Einmalbeutel mit 15 cm langem Schlauch zum Einführen in das Rektum enthält eine Lösung, die oft schon unmittelbar nach Gebrauch zum gewünschten Erfolg führt. Ich arbeitete über dem untergeschobenen Cleanius. Bevor ich die Schlauchspitze ab-brach, strich ich den Schlauch mit Vaseline ein.
Bei dem ersten Einsatz von Cleanius hatten drei Klistiere keinen Erfolg gebracht, obwohl ich zusätzlich ein mildes Abführmittel gereicht hatte. Am neunten Tag ohne Stuhl versuchte ich es erneut und war endlich erfolgreich. Ich war sehr nervös gewesen, weil ich mich an dem Spruch von Dr. Murphy orientiert hatte, „von fünf Mal am Tag bis alle fünf Tage ist alles normal“. Cleanius hatte seine Feuerprobe bestanden.
Mit einer stattlichen Portion geformten Stuhls gut halb gefüllt, trug ich die reiche Beute zur nahen Toilette und kippte den Inhalt in die Kloschüssel. Was war dies doch ein einfaches Verfahren im Vergleich zu der Entsorgung über Windeln! Mit einer Art Triumphgefühl betätigte ich die Wasserspülung und vertraute den Inhalt unserem kürzlich erneuerten Abflussrohr und damit der Kläranlage an.
Laut Protokoll war dies der erste von 329 Einsätzen von Cleanius. Nach jedem Einsatz musste das Gerät sorgfältig gereinigt werden. Im Gegensatz zum Krankenhaus hatte ich keine spezialisierte Spülmaschine zur Verfügung. Ich war auf Bürste, Seife und Desinfektionsmittel angewiesen. Im Badezimmer reinigte ich mit heißem Wasser und steckte alle Teile hinter den Handlauf unserer behindertengerecht umgebauten Duschecke zum Trocknen. Wenn nach dem Trocknen noch Duftspuren bemerkbar waren, wiederholte ich die Reinigung. So war die Hygiene gewährleistet. Wenn ich mit dieser Methode der Toilette einen geformten Stuhl anvertrauen konnte, bedeutete dies jedes Mal eine sehr große Arbeitserleichterung.
Für den Fall, dass der Stuhl weniger gut geformt war, hatte ich mir eine Gummispritze besorgt, mit der ich über dem Cleanius warmes Wasser auf die zu reinigenden Stellen geben konnte. Jetzt war allerdings bei der Entfernung der Bettschüssel Vorsicht geboten; damit der flüssige Inhalt nicht das Bett beschmutzte.
Für einen solchen Fall war Vorsorge getroffen. Wie ich es im Krankenhaus gesehen hatte, verwendete ich wasserundurchlässige Unterlagen, die bei Bedarf gewechselt werden konnten. Davon hingen regelmäßig mehrere frisch gewaschene Exemplare zum Trocknen an unseren Wäscheleinen.
Zum Zähneputzen benutzte ich Betttisch und Munddusche. Ich stellte die Waschschüssel auf den Betttisch, die Munddusche daneben, und leitete das Zähneputzwasser, das aus dem abnehmbaren Wassertank gepumpt wurde, mit einem wasserdichten Latz in die Waschschüssel. Erst gegen Ende meiner Pflegetätigkeit hatte ich ein Handgerät mit Akku und eingebautem Wassertank, womit ich sehr viel leichter arbeiten konnte. Allerdings musste der Wassertank für eine Aktion mehrfach gefüllt werden.
Tosca machte beim täglich zweimaligen Zähneputzen, Waschen und Eincremen freundlich mit, die Munddusche war ihr vertraut, und sie fragte mich nie, warum ich auf Zahnbürste und Zahncreme verzichtete, seit sie bettlägerig war. Mir kam es jetzt in erster Linie darauf an, Speisereste zwischen den Zähnen zu entfernen. Die Verwendung von Zahnbürste und Zahncreme hätte deutlich länger gedauert. Ich musste Zeit einsparen, wo immer dies möglich war. Ihr war es so, wie ich es machte, offensichtlich angenehm. Ich war von ihr nie groß kritisiert worden. Ich war immer ein selbstverständlicher Faktor in ihrem Leben. Wir hatten uns gegenseitig immer geachtet. Wir waren uns nie untreu geworden. Davon konnten wir jetzt zehren. Sie nahm auch bewusst wahr, dass ich immer in ihrer Nähe war.
Zeit einzusparen war bei der Körperpflege unumgänglich. Zähneputzen mit Zahnbürste und Zahncreme hätte durchschnittlich mindestens drei Minuten länger gedauert, was bei mehr als 2000 protokollierten Zahnputzaktionen im Laufe meiner Pflegetätigkeit gut hundert Stunden zusätzliche Pflegezeit bedeutet hätte. Diese Zeit kam den vielen anderen Zuwendungen zugute. Ich selbst arbeitete stets am Limit, zum Schlafen blieben mir durchschnittlich nur fünf Stunden.
Tosca, die ich früher an der Taille mit beiden Händen fast umfassen konnte, hatte als Folge des Dauerliegens sehr stark an Gewicht zugenommen. Dadurch war es für mich unmöglich geworden, sie allein aus dem Bett zu heben. Eine Gewichtskontrolle mit dem Gerät Maxi Move im Krankenhaus im Dezember 2017 hatte etwas mehr als 80 kg Körpergewicht ergeben.
Vor mir lagen jetzt Pflegejahre in völliger Bettlägerigkeit meiner Patientin. Seit Beginn ihrer Erkrankung hatte Toscas liebenswürdige schwarze Friseurin Malaika schon sechsmal die Haare im Badezimmer gewaschen, geschnitten und geföhnt. Jetzt, im November 2016, musste dies zum ersten Mal im Bett geschehen. Wie bisher schon immer holte ich Malaika vor der Tiefgarage in der Gartenstraße ab. Sie hatte sich gut auf die neue Situation vorbereitet, und sie kam auch mit der neuen Kopfwaschschüssel gut zurecht.
Toscas Stereo-Radiorecorder mit CD-Player wurde aus dem Dachboden geholt. Ich hatte ihn ihr früher für ihren Unterricht besorgt. Jetzt konnte ich das Gerät gut gebrauchen. Unser Schlafzimmer, das jetzige Krankenzimmer, war zwar hübsch mit Bücherregalen eingerichtet, aber für die jetzige Verwendung doch zu spartanisch. An einen Fernseher im Schlafzimmer war von dem Erbauer unseres Hauses nicht gedacht worden, wir hatten ihn nie vermisst, und jetzt fehlte der nun dringend benötigte Fernsehanschluss. Vom Erdgeschoß hätte man zwar ein Kabel außen an der Hauswand montieren lassen können, was die einfachste Lösung gewesen wäre, aber schön wäre das nicht gewesen.
Der Elektriker riet mir, mich bei einem Informatiker nach einer Lösungsmöglichkeit für einen Fernsehempfang ohne Kabel zu erkundigen. In meinem neben dem Schlafzimmer liegenden Arbeitszimmer ist mein PC an einen Rooter angeschlossen. Aus Toscas ehemaligem Arbeitszimmer im Erdgeschoss wurde ihr Computertisch samt Notebook und Monitor heraufgeholt und über WLAN mit dem Rooter verbunden. Der Informatiker richtete WLAN-Fernsehprogramme ein. Die Lautsprecher des Notebooks wurden durch eine Soundbar ergänzt, so dass die abgespielten CDs wie Livemusik klangen und die Lautsprecher des Monitors abgeschaltet werden konnten. Die Soundbar war mit ihren Lautsprechern an die Raumgröße angepasst. Ein separater Subwoofer für den Raumklang war nicht erforderlich, er wurde durch die beiden seitlichen Lautsprecher der Soundbar ersetzt. Für Unterhaltung mit Musik und Fernsehen war gesorgt. Die Ablage unter dem Computertisch bot Platz für eine große CD/DVD-Sammlung, die immer wieder aktuelle Ergänzungen erfuhr.
Musik wird bei Demenz, zu der auch Alzheimer zählt, zur Therapie eingesetzt. Musiktherapie hatte bei Tosca beruhigenden und zugleich belebenden Einfluss. Ab Mai 2017 trug ich in das Pflegeprotokoll ein, wann ich welche CD‘s eingelegt hatte. Was auch immer gerade jetzt oder in den kommenden Jahren beim Hören in die Seele eindringen oder aus der Seele aufleuchten würde, es bedeutete zumindest einen inneren Impuls, eine Empfindung, über den Hörnerv empfangene Klangqualität.
Klänge, die zu Resonanzen im Gehirn führen, können Bilder aus dem Gedächtnis wecken. Ich stellte mir diese Wirkung als eine Art virtuelles Medikament vor. Aufkommende Stimmungen konnten den Tagesablauf differenzieren. Erinnerungen waren vielleicht in der Lage, das gebeugte, gebeutelte Selbst wieder etwas aufzurichten. Dies bedeutete für mich dringend benötigte Hilfe bei der Bewältigung des Pflegealltags. Aus der beginnenden Alzheimer-Demenz ergaben sich ständig neue Situationen, die meine Kreativität herausforderten. Musik half bei dieser bewahrenden, palliativen Pflege, indem sie die Patientin in einen Schutzmantel hüllte. Sie stellte eine echte Therapie dar, vergleichbar mit anderen Therapien wie Verhaltenstherapie, kognitives Training und insbesondere Physiotherapie.
Der Anteil der Musiktherapie bei der Betreuung Toscas wird dadurch dokumentiert, dass die Suche nach „>CD<“, als Kürzel für das Einlegen und Abspielen einer CD verwendet, im Pflegeprotokoll 684 Treffer ergab. Das ab 2020 aufkommende Musikstreamen, mit >P< für Playlist codiert, erzielte immerhin noch 118 Treffer. Toscas Seele wurde fast ständig von Musik umschmeichelt, liebkost.
Inkontinenz (2017), die Rote Phase
Wir waren inzwischen im dritten Pflegejahr angekommen. Die Bezeichnung Rote Phase wählte ich wegen Toscas vollständiger Inkontinenz. Ich trug den Wechsel der Windeln in das Protokoll mit der roten Signatur >I< für Inkontinenz ein, wodurch das gesamte Protokoll rot leuchtete. Täglich musste die hoch saugfähige Windel morgens, mittags und abends gewechselt werden. Dies dauerte im Durchschnitt jeweils eine Dreiviertelstunde mit einer Spanne zwischen 25 und 65 Minuten. Dabei überwog der Zeitaufwand von einer halben Stunde mit 62 von insgesamt 963 Einträgen innerhalb des Jahres 2017 deutlich.
Die Windeln besorgte ich im Sanitätshaus auf Rezept. Jeweils drei dieser großen Pakete mit je dreißig Windeln passten in den Kofferraum von Toscas Fiat Fiesta. Dieser frühere Zweitwagen war jetzt unser einziges Fahrzeug. Im Sanitätshaus hatte man sich auf meinen Bedarf eingestellt. Bevor ich mit einem neuen Rezept hinfuhr, versicherte ich mich telefonisch, dass die Ware auch tatsächlich vorhanden war. Im nahen Dachboden hatte ich immer einen Überblick über den Vorrat, der etwa einen Monat ausreichte. Dort befand sich auch ein größerer Vorrat an Papiertuchrollen, die ich zur Reinigung brauchte. Die Prozedur der Papiertuch-Vorbereitung hatte ich gut im Griff. Es mussten immer wenigstens zwei Rollen in ca. 45 Einzelblätter zerteilt werden.
Die meist tropfnassen Windeln kamen in Plastiktüten von der Rolle und landeten in bedruckten Plastiksäcken, die ich im Bürgeramt abholen konnte. Sie wurden bei der 14-tägigen Restmüllabfuhr gratis mitgenommen, ein Dienst, den auch die Betreuer und Betreuerinnen kleiner Kinder in Anspruch nehmen konnten. Gebrauchte Papiertücher entsorgte ich in der Toilette. Während der Reinigungsprozedur unter-legte ich meiner Patientin dicke Packen Papiertücher wegen ihrer Inkontinenz. Sie wurden anschließend im Dachboden zum Trocknen und wieder Verwenden ausgelegt. Durch Kot verschmutzte Papiertücher und solche, die Kotportionen enthielten, entsorgte ich über die Toilette.
Der Kot war zum Dauerproblem geworden. Als Referenz gebe ich einen Protokolleintrag vom 5. August 2017, 13:20 Uhr, wieder: „Schöpfkelle. Stuhl-Urin füllt Mulde bis Bauchnabel“. Bei allen sonstigen Verbesserungen der Pflegetechnik in der folgenden Zeit änderte sich hier nichts.
Damals musste ich beim Entsorgen der Papiertücher über die Toilette sehr vorsichtig sein, weil das Abflussrohr gerne verstopfte. Trotz aller Vorsicht waren eines Tages alle Versuche vergebens, die Verstopfung rückgängig zu machen. Die zu Hilfe gerufene Rohrreinigungsfirma arbeitete mit Druck- und Saugeinrichtungen von der Toilette und vom Kontrollschacht vor dem Hause her. Als alles nichts half, musste sogar die Toilette abmontiert werden.
Dieses Dusch-WC war zwar sehr komfortabel, aber die Demontage schwieriger und zeitaufwändiger als bei einem normalen WC. Dies führte schließlich zu einer sehr beachtlichen Rechnung, die ich dem sehr unfreundlichen Handwerker bar bezahlen sollte, was meinen Vorrat an Bargeld aber weit übertraf. Er weigerte sich, einen Verrechnungsscheck anzunehmen. Die Situation wurde für mich richtig bedrohlich. Ich war schließlich gezwungen, den Betrag in Gegenwart des Handwerkers per Telefon-Banking zu überweisen, was mir wegen der sensiblen Daten sehr unangenehm war.
Diese Erfahrung war für mich so gravierend, dass ich bald danach eine Sanitärfirma beauftragte, das alte, gusseiserne Abflussrohr im Keller durch ein PVC-Rohr zu ersetzen. Das diagonal der Kellerwand entlanglaufende, meterlange Abflussrohr hatte ein geringes Ge-fälle, und die Kalkablagerungen darin hatten den Abfluss allmählich immer stärker behindert. Mit dem neuen Rohr war die Gefahr einer Verstopfung gebannt.
Ab jetzt konnte ich problemlos bis zu fünf Papiertücher, unabhängig von der darin enthaltenen Kotmenge, auf einmal hinunterspülen. Manchmal bildete sich dabei ein Stau in der Kloschüssel, der aber nach kurzer Pause mit einem satten Schluckgeräusch nach unten verschwand. Papier und Kot gehören in die Toilette, ganz unabhängig von der Menge. In der Kläranlage war meine immer sehr reichliche Lieferung sicher nicht aufgefallen. Eher machte sich das in unserer Wasserrechnung bemerkbar.
Der Zeitaufwand für ein Windelwechseln war erheblich. Aus- und Anziehen im Bett und Inkontinenzartikel erneuern dauerte im Schnitt eine dreiviertel Stunde. Bei 250 protokollierten derartigen Ereignissen im Jahre 2017 ein Arbeitsaufwand von fast 200 Stunden.
Meine Gegenwart wirkte auf Tosca beruhigend, hielt sie aber auch überwiegend wach und sprechbereit. Immer wieder bat sie mich um eine Änderung der Seitenlagerung. Ich protokollierte dies und stellte fest, dass es fast nur im Jahre 2017 vorgekommen war, nämlich 18-mal von insgesamt 22-mal. Vermutlich war es die Windelpackung, die ihr lästig geworden war.
Nachdem das Krankenzimmer zum Daueraufenthalt geworden war, lief dort sehr viel Musik. Neben Klassik spielten dabei auch andere Genres eine Rolle, an erster Stelle Folk mit meinem Lieblings-Gitarristen Bob Dylan, aber auch Blues und Rock ‘n Roll. Ich merkte bald, dass ihr Blues am besten gefiel, und besorgte B.B. King, Milestones of a Blues Legend, eine 10 CD-Collection. Ich unterhielt mich mit Tosca über Aufbau und Wesen des Blues. Sie war glücklich, wenn sie im Radio einen Blues erkannt hatte. Auch Muddy Waters, Billie Holiday und Janis Joplin wurden Lieblingsinterpreten.
Als dann im September bekannt wurde, dass Aretha Franklin gestorben war, ging ich in meinen CD-shop und fragte nach ihr. Der Verkäufer signalisierte mit dem Daumen müde über seine Schulter in eine Richtung, offensichtlich war ich nicht der erste Kunde mit diesem Wunsch. Diese Geste hatte ich früher einmal erlebt, als ich einen Polizisten in Innsbruck nach dem Goldenen Dachl gefragt hatte.
Mit „respect“ von Aretha Franklin hatte ich schnell Toscas Lieblingsblues gefunden. Er wurde immer wieder von ihr gewünscht. Sie nahm sich, denke ich, dabei Alois Alzheimer vor, um Respekt von ihm zu verlangen. Was er suchte, habe sie ja, aber wenn er nach Hause komme, egal, was er zuvor getrieben haben sollte, verlange sie Respekt. Andernfalls sei sie vielleicht nicht mehr da.
Das heißt doch, sie will sich nicht ergeben. Ich bewunderte sie. Sie nahm den Kampf gegen ihn auf. Ich spürte einen Hoffnungsschimmer. Sollte ich sie nicht mehr nur beschützend, palliativ pflegen müssen, sondern sie kurativ, heilend, in ein normales Leben zurückführen können? Tosca im Ring mit Alois Alzheimer. Wuchsen ihr durch diese Musik neue, ungeahnte Kräfte? Damals glaubte ich nur zu gerne daran. Diese Runde jedenfalls ging eindeutig an sie.
Im September fand ich im Angebot des ZEIT-Shop eine überschwängliche Empfehlung für die ZEIT-Leser, eine Kassette „Legenden des Soul“, mit 15 CDs, von Ray Charles über Stevie Wonder bis hin zu Michael Jackson / Jackson 5. Diese Musik prägte den Rest des Jahres. Nach Aretha Franklin konnten wir noch mehr Soul in allen Schattierungen genießen. Zu der Kassette gehörte ein Begleitbuch mit „15 Porträts einzigartiger Soul-Musiker und ausgewählte Artikel aus der ZEIT“.
Am meisten begeisterte sich Tosca an der Kunst des „King of Pop“, Michael Jackson. Die von Vater Jackson gemanagten fünf Brüder, von denen Michael der Jüngste war, hatten ebenso frische Stimmen, wie ihre ehemaligen Grundschüler. Sie war eine begeisternde Lehrerin gewesen. Musik- und Kunstunterricht spielte dabei eine tragende Rolle. Vor ihrem geistigen Auge tauchten nun wohl die von ihren Kolleginnen Ursel und Nuria gestalteten Schulkonzerte auf. Sie selbst gehörte mit zum Team und trat öffentlich mit ihren Schülerinnen und Schülern auf.
Ursels Veranstaltungen hatten einen professionellen Anstrich. Sie gehörten zu den kulturellen Highlights von Weißenau. Die Turn- und Festhalle war voll besetzt. Eltern, Freunde und Bekannte füllten die Reihen der Zuschauer. Es gab ein Kuchenbuffet. Tosca stand mit im Zentrum des Interesses. Mit dem Gesang von “Jackson 5“ hatte sie einen Wachtraum. Das war jetzt Musiktherapie in Hochform. Ihre Wirkung war in ihren Augen und ihrer Mimik ablesbar. Der Kindergesang war eine Quelle, aus der sie Kraft schöpfen konnte.
Sie gab sich dem gemeinsamen Musikhören völlig hin, und ich konnte ihr aus den Porträts der Soul-Musiker und Musikerinnen vorlesen. Immer wieder las man, dass eine musikalische Karriere mit Gospelsongs in Kirchen begonnen hatte. Wir konnten auf unsere Reiseerinnerungen zurückgreifen, bei denen wir an die schrecklichen Taten der Blackbirders erinnert worden waren. Wo diese mit ihren Schiffen auftauchten, vor allem in Afrika, flohen Ureinwohner in Panik in die Wälder. Wer gefangen genommen worden war, landete in amerikanischen Zuckerrohrplantagen, falls er die Überfahrt überlebt haben sollte.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag hatte ich ein sehr informatives und verständnisvolles Gespräch mit dem Chefarzt Prof. Wiedemann. Bei meinem zweiten Besuch war Tosca sehr still und hielt die Augen auch beim Essen geschlossen. Aber tags darauf erfuhr ich, dass die Entlassung bevorstehe.
Dort befand sich auch ein größerer Vorrat an Papiertuchrollen, die ich zur Reinigung brauchte. Die Prozedur der Papiertuch-Vorbereitung hatte ich gut im Griff. Es mussten immer wenigstens zwei Rollen in ca. 45 Einzelblätter zerteilt werden.
Die meist tropfnassen Windeln kamen in Plastiktüten von der Rolle und landeten in bedruckten Plastiksäcken, die ich im Bürgeramt abholen konnte. Sie wurden bei der 14-tägigen Restmüllabfuhr gratis mitgenommen, ein Dienst, den auch die Betreuer und Betreuerinnen kleiner Kinder in Anspruch nehmen konnten. Gebrauchte Papiertücher entsorgte ich in der Toilette. Während der Reinigungsprozedur unterlegte ich meiner Patientin dicke Packen Papiertücher wegen ihrer Inkontinenz. Sie wurden anschließend im Dachboden zum Trocknen und wieder Verwenden ausgelegt. Durch Kot verschmutzte Papiertücher und solche, die Kotportionen enthielten, entsorgte ich über die Toilette.
Der Kot war zum Dauerproblem geworden. Als Referenz gebe ich einen Protokolleintrag vom 5. August 2017, 13:20 Uhr, wieder: Schöpfkelle. Stuhl-Urin füllt Mulde bis Bauchnabel. Bei allen sonstigen Verbesserungen der Pflegetechnik in der folgenden Zeit änderte sich hier nichts.
Damals musste ich beim Entsorgen der Papiertücher über die Toilette sehr vorsichtig sein, weil das Abflussrohr gerne verstopfte. Trotz aller Vorsicht waren eines Tages alle Versuche vergebens, die Verstopfung rückgängig zu machen. Die zu Hilfe gerufene Rohrreinigungsfirma arbeitete mit Druck- und Saugeinrichtungen von der Toilette und vom Kontrollschacht vor dem Hause her. Als alles nichts half, musste sogar die Toilette abmontiert werden.
Dieses Dusch-WC war zwar sehr komfortabel, aber die Demontage schwieriger und zeitaufwändiger als bei einem normalen WC. Dies führte schließlich zu einer sehr beachtlichen Rechnung, die ich dem sehr unfreundlichen Handwerker bar bezahlen sollte, was meinen Vorrat an Bargeld aber weit übertraf. Er weigerte sich, einen Verrechnungsscheck anzunehmen. Die Situation wurde für mich richtig bedrohlich. Ich war schließlich gezwungen, den Betrag in Gegenwart des Handwerkers per Telefon-Banking zu überweisen, was mir wegen der sensiblen Daten sehr unangenehm war.
Diese Erfahrung war für mich so gravierend, dass ich bald danach eine Sanitärfirma beauftragte, das alte, gusseiserne Abflussrohr im Keller durch ein PVC-Rohr zu ersetzen. Das diagonal der Kellerwand entlanglaufende, meterlange Abflussrohr hatte ein geringes Ge-fälle, und die Kalkablagerungen darin hatten den Abfluss allmählich immer stärker behindert. Mit dem neuen Rohr war die Gefahr einer Verstopfung gebannt.
Ab jetzt konnte ich problemlos bis zu fünf Papiertücher, unabhängig von der darin enthaltenen Kotmenge, auf einmal hinunterspülen. Manchmal bildete sich dabei ein Stau in der Kloschüssel, der aber nach kurzer Pause mit einem satten Schluckgeräusch nach unten verschwand. Papier und Kot gehören in die Toilette, ganz unabhängig von der Menge. In der Kläranlage war meine immer sehr reichliche Lieferung sicher nicht aufgefallen. Eher machte sich das in unserer Wasserrechnung bemerkbar.
Der Zeitaufwand für ein Windelwechseln war erheblich. Aus- und Anziehen im Bett und Inkontinenzartikel erneuern dauerte im Schnitt eine dreiviertel Stunde. Bei 250 protokollierten derartigen Ereignissen im Jahre 2017 ein Arbeitsaufwand von fast 200 Stunden.
Meine Gegenwart wirkte auf Tosca beruhigend, hielt sie aber auch überwiegend wach und sprechbereit. Immer wieder bat sie mich um eine Änderung der Seitenlagerung. Ich protokollierte dies und stellte fest, dass es fast nur im Jahre 2017 vorgekommen war, nämlich 18-mal von insgesamt 22-mal. Vermutlich war es die Windelpackung, die ihr lästig geworden war.
Nachdem das Krankenzimmer zum Daueraufenthalt geworden war, lief dort sehr viel Musik. Neben Klassik spielten dabei auch andere Genres eine Rolle, an erster Stelle Folk mit meinem Lieblings-Gitarristen Bob Dylan, aber auch Blues und Rock ‘n Roll. Ich merkte bald, dass ihr Blues am besten gefiel, und besorgte B.B. King, Milestones of a Blues Legend, eine 10 CD-Collection. Ich unterhielt mich mit Tosca über Aufbau und Wesen des Blues. Sie war glücklich, wenn sie im Radio einen Blues erkannt hatte. Auch Muddy Waters, Billie Holiday und Janis Joplin wurden Lieblingsinterpreten.
Als dann im September bekannt wurde, dass Aretha Franklin gestorben war, ging ich in meinen CD-shop und fragte nach ihr. Der Verkäufer signalisierte mit dem Daumen müde über seine Schulter in eine Richtung, offensichtlich war ich nicht der erste Kunde mit diesem Wunsch. Diese Geste hatte ich früher einmal erlebt, als ich einen Polizisten in Innsbruck nach dem Goldenen Dachl gefragt hatte.
Mit „respect“ von Aretha Franklin hatte ich schnell Toscas Lieblingsblues gefunden. Er wurde immer wieder von ihr gewünscht. Sie nahm sich, denke ich, dabei Alois Alzheimer vor, um Respekt von ihm zu verlangen. Was er suchte, habe sie ja, aber wenn er nach Hause komme, egal, was er zuvor getrieben haben sollte, verlange sie Respekt. Andernfalls sei sie vielleicht nicht mehr da.
Das heißt doch, sie will sich nicht ergeben. Ich bewunderte sie. Sie nahm den Kampf gegen ihn auf. Ich spürte einen Hoffnungsschimmer. Sollte ich sie nicht mehr nur beschützend, palliativ pflegen müssen, sondern sie kurativ, heilend, in ein normales Leben zurückführen können? Tosca im Ring mit Alois Alzheimer. Wuchsen ihr durch diese Musik neue, ungeahnte Kräfte? Damals glaubte ich nur zu gerne daran. Diese Runde jedenfalls ging eindeutig an sie.
Im September fand ich im Angebot des ZEIT-Shop eine überschwängliche Empfehlung für die ZEIT-Leser, eine Kassette „Legenden des Soul“, mit 15 CDs, von Ray Charles über Stevie Wonder bis hin zu Michael Jackson / Jackson 5. Diese Musik prägte den Rest des Jahres. Nach Aretha Franklin konnten wir noch mehr Soul in allen Schattierungen genießen. Zu der Kassette gehörte ein Begleitbuch mit „15 Porträts einzigartiger Soul-Musiker und ausgewählte Artikel aus der ZEIT“.
Am meisten begeisterte sich Tosca an der Kunst des „King of Pop“, Michael Jackson. Die von Vater Jackson gemanagten fünf Brüder, von denen Michael der Älteste war, hatten ebenso frische Stimmen, wie ihre ehemaligen Grundschüler. Sie war eine begeisternde Lehrerin gewesen. Musik- und Kunstunterricht spielte dabei eine tragende Rolle. Vor ihrem geistigen Auge tauchten nun wohl die von ihren Kolleginnen Ursel und Nuria gestalteten Schulkonzerte auf. Sie selbst gehörte mit zum Team und trat öffentlich mit ihren Schülerinnen und Schülern auf.
Ursels Veranstaltungen hatten einen professionellen Anstrich. Sie gehörten zu den kulturellen Highlights von Weißenau. Die Turn- und Festhalle war voll besetzt. Eltern, Freunde und Bekannte füllten die Reihen der Zuschauer. Es gab ein Kuchenbuffet. Tosca stand mit im Zentrum des Interesses. Mit dem Gesang von “Jackson 5“ hatte sie einen Wachtraum. Das war jetzt Musiktherapie in Hochform. Ihre Wirkung war in ihren Augen und ihrer Mimik ablesbar. Der Kindergesang war eine Quelle, aus der sie Kraft schöpfen konnte.
Sie gab sich dem gemeinsamen Musikhören völlig hin, und ich konnte ihr aus den Porträts der Soul-Musiker und Musikerinnen vorlesen. Immer wieder las man, dass eine musikalische Karriere mit Gospelsongs in Kirchen begonnen hatte. Wir konnten auf unsere Reiseerinnerungen zurückgreifen, bei denen wir an die schrecklichen Taten der Blackbirders erinnert worden waren. Wo diese mit ihren Schiffen auftauchten, vor allem in Afrika, flohen Ureinwohner in Panik in die Wälder. Wer gefangen genommen worden war, landete in amerikanischen Zuckerrohrplantagen, falls er die Überfahrt überlebt haben sollte.
Am Karfreitag führte ich Tosca mit dem neuen Notebook eine PowerPoint-Präsentation von unserer Osterreise nach Andalusien von 2007 vor und fragte sie anschließend, ob ihr die Bilder gefallen hätten. Ihre mühsam hervorgebrachte Antwort war: „Ja, aber ich weiß nicht, was es bedeutet“. Ich war überrascht; diese Antwort hatte ich nicht erwartet. Die Bilder von der Prozession hätten nicht eindrucksvoller sein können, und wir hatten die Karfreitagsprozession damals sehr intensiv miterlebt. Unvergesslich, wie lebendig Jesus Christus auf den Stufen seines Leidensweges am Tag der Kreuzigung auf dem Hügel Golgatha vor den Toren Jerusalems an den links und rechts stehenden, oft tief gläubigen Menschen vorbeigetragen wurde. Wir hatten von dieser thematischen Reise später immer wieder gesprochen. Sie gehörte zu unseren tiefsten Reiseerlebnissen. Und nun waren die Bilder bei Tosca zu Empfindungen ohne Inhalte geschrumpft, was man nicht hätte ahnen können, wenn sie dies nicht mit ihrer Äußerung offenbart hätte. Diese Runde hatte sie an Alois Alzheimer verloren, da gab es keinen Zweifel.
Wir waren Augen- und Ohrenzeugen gewesen, wie jeweils um die 100 Angehörige einer sogenannten Cofradía oder Zunft ihren überlebensgroßen Christus gemessenen Schrittes auf einer schweren Tafel vorbeitrugen, begleitet von rhythmischen Klängen im Takt der Schritte. Man hätte gedacht, einen derartigen Eindruck nie wieder vergessen zu können.
Die Krankheit hatte sich eines Teiles ihrer Neuronen, ihrer Ganglienzellen, aus dem Bereich ihrer optischen und akustischen Erinnerungen bemächtigt. Medizinisch gesehen waren Eiweißpartikel in diese Ganglien eingelagert worden, wodurch sie innerhalb des Zusammenklangs der Milliarden Gehirnzellen für immer zum Schweigen gebracht worden waren.
Die Erkrankung ist schicksalhaft. Es gibt zwar vorbeugende Maßnahmen, aber derzeit noch keine Möglichkeiten, das Fortschreiten der Krankheit aufzuhalten. Mit dem Absterben immer neuer Milliarden Zellen geht eine unumkehrbare Schrumpfung der Gehirnmasse einher. Ist Alzheimer erst einmal diagnostiziert, ist eine pflegerische Betreuung nur noch palliativ, behütend und bewahrend möglich. Der Patient oder die Patientin befindet sich auf dem mehr oder weniger langen Weg von der frühen, in die mittlere und schließlich in die Endphase. Spätestens mit der Eroberung des Atemzentrums im Stammhirn durch die Alzheimer-Erkrankung erlischt das Leben.
Eine aufmerksame und liebevolle Betreuung kann das Schicksal eines oder einer Betroffenen mildern. Ich habe in diesem Sinne gelernt, auf Signale meiner Patientin zu achten. Lautäußerungen waren besonders wertvoll. Die Körpersprache ergänzte das Erkennen dessen, was sie bewegte. Die Lautäußerungen protokollierte ich in Anführungszeichen, wodurch ich über das Windows-Suchprogramm rasch einen Überblick über ihren weiteren Krankheitsverlauf im Jahr 2017 gewinnen konnte.
Besonders aufschlussreich waren mir ihre damals noch relativ häufigen bewussten Äußerungen. Einmal stöhnte sie wiederholt und sagte dann: „Ich bin müde. Warum muss ich so oft Luft holen?“ Ein anderes Mal stöhnte sie wieder und sagte auf meine Frage „Was ist?“, „Ich habe hier Schmerzen“, und deutete auf ihre Nase. Als sie einmal sehr bedrückt wirkte und ich sie fragte, warum, sagte sie: „Weil ich gar nicht mehr raus kann“. Ich hörte sie beim Frühsport nach mir rufen. Sie fragte mich dann: „Wann muss ich aufsteh’n“. Meine Antwort: „Nachher“ beruhigte sie. Einmal war ich gerade beim morgendlichen Duschen, und sie rief nach mir, um mir zu sagen: „Ich hab‘ so wenig power, wo bin ich?“ Und auch diese Äußerung stimmt bedenklich: Tosca ruft mich, frägt nach ihrem Namen, und ob sie schon immer so geheißen hätte. Und obwohl ich mit ihrer Pflege beschäftigt bin, frägt sie: „Wo bist du?“. Ich antworte: „Hier, deine Beine eincremen, merkst du das nicht?“, und sie antwortet: „nein!“
Aus dieser Aufzählung ergibt sich, dass sie kaum Schmerzen hatte. In ihrer Lage war das nicht selbstverständlich. Da hatte sie Glück. Dass sie über ihre Lage unglücklich war, kam manchmal, aber doch sehr selten zum Ausdruck. Sie lehnte sich nicht gegen ihre Krankheit auf, sie kämpfte nicht gegen unangenehme Empfindungen oder Vorstellungen an. Von epileptischen Anfällen war nichts mehr zu merken. Diese hatten sämtlich im Jahr 2016 stattgefunden.
Ich fragte mich, ob dies ein positives Signal hätte sein können, und kam zum gegenteiligen Schluss. In ihrem Gehirn machte sich Ruhe breit. Chaotische Zustände, die sich in Epilepsie geäußert haben würden, fanden nicht mehr statt. Die Alzheimer Erkrankung hatte auf ihrem Vormarsch Gebietsgewinne gemacht.
Immer wieder stellte sie Fragen, die im Zusammenhang mit ihren Erinnerungen an unsere Reisen standen. Einmal rief sie nach mir und fragte: „Wann fahren wir?“ Oder sie fragte mich, während wir gerade Musik hörten: „Wo sind unsere Sachen?“
Auch die folgenden spontan geäußerten Fragen gehören in diesen Zusammenhang und stammen im Originaltext aus dem Pflegeprotokoll: „Reisen wir?“ „Wann packen wir?“ „Wann fahren wir?“ „Wann packen wir die Koffer?“.
Diese Fragen kamen aus tieferen Schichten ihrer Erinnerungen. Seit 1983 hatten wir fast jedes Jahr gemeinsam unsere Fernreisen geplant, die für mich immer auch unter beruflichem Aspekt gestanden hatten. Meine Lehrveranstaltung „Tierleben der Klimazonen“, als Seminar mit Vorlesungen und studentischen Referaten konzipiert, war bei den Studierenden seit Jahren äußerst beliebt. Die Themen der vorgesehenen Referate wurden mir fast aus den Händen gerissen. Meine Vorlesungen waren sehr reich mit Medien ausgestattet. Mit meinen Reiseerlebnissen und den Fotos von unterwegs konnte ich diese Lehrveranstaltung immer wieder aktualisieren. Bei den Biologie-Studierenden aktualisierten sich dabei ganz sicher eigene Reisepläne.
Wir waren beim Planen einer Reise in unserer Sitzgruppe über Reisekataloge, Reiseführer und Kartenmaterial gebeugt. Die Vorfreude auf neue Erlebnisse in fernen Kontinenten vibrierte bis in die Fingerspitzen. Emotional aufeinander eingestimmt musste dies bei Tosca dieselben Eindrücke hinterlassen haben wie bei mir.
Ich war glücklich über Toscas gleiche Interessen. Als Doppelverdiener in unserem nach langen Jahren Sparsamkeit endlich schuldenfreien Haus hatte sich das für eine Fernreise zu zweit benötigte, recht beachtliche Kapital immer wieder beruhigend angesammelt. Gemeinsam trafen wir unsere Entscheidungen, buchten Reiseziele mit traumhaft klingenden Namen und waren bis zum Beginn einer solchen Reise in großer Erregung. Neben unserer Berufsarbeit musste an Ausrüstung, Kontakt zum Reisebüro, Impfungen, Beschaffung von Devisen, gültige Reisedokumente und vieles mehr gedacht werden. Diese vielseitige Beschäftigung erreichte ihren Höhepunkt im Warten auf das Taxi, das uns zum Bahnhof bringen musste. Kein Wunder, dass Tosca immer wieder Sorgen und Glücksgefühle aus dieser Zeit verspürte und sich dazu äußerte.
Nach 10 Tagen im Krankenhaus, und noch unter dem Einfluss eines daher rührenden Delir, fragte Tosca: „Welche Jahreszeit haben wir?“ Ich antwortete ihr: „Heute ist der elfte November, wir sind im Spätherbst“. Und sie fragte weiter wie in einem ganz normalen Gespräch: „Seit wann sind wir hier?“ Meine Antwort laut Protokoll war: „Seit 2014 waren wir nicht mehr weg, jetzt haben wir 2017, also seit 3 Jahren sind wir hier.“ Darauf sagte sie etwas Erschreckendes: „Ich habe überhaupt keine Erinnerung.“ Ich musste schlucken, nahm mich aber zusammen und sagte: „Das ist nicht schlimm. Frage mich einfach, ich erkläre es dir dann“.
Es war aber eindeutig schlimm. Alzheimer hatte wieder einen Etappensieg gewonnen. Aus tieferen Schichten der Erinnerung waren stark emotional geprägte Erinnerungen nicht mehr sicher abzurufen. Zwei Tage später ergab sich eine ähnliche Situation, die aber noch mehr zu denken gab. Es war abends beim Waschen, als Tosca spontan sagte: “Und, wie kann ich anrufen?” Überrascht antwortete ich et-was unfreundlich: „Gar nicht, du kannst nicht mehr telefonieren, das hast du vor langer Zeit verlernt. Wen willst du denn anrufen?“. Sie blieb mir die Antwort schuldig, begann aber fünf Minuten später wie-der: „Ich hab‘ heut‘ noch …“. Ich wartete etwas und sagte dann: „Was? Sprich zu Ende“. Darauf blieb sie stumm und wirkte völlig abwesend. Nach kurzer Aufhellung hatten sich ihre Gedanken in der Dunkelheit verloren. Ihr Gehirn, ihr Simulator, hatte abgeschaltet.
So sehr ich mich jedes Mal freute, wenn sie etwas sagte, war die berichtete Gesprächsbilanz eines ganzen Jahres doch erschreckend dürftig. Sie zeigte aber immerhin, dass ihr Geist lebendig war. Ich konnte das auch immer erkennen, wenn mich die vertraute Mimik ihres geliebten Gesichts ihre Gedanken lesen ließ. Was sich in ihr abspielte, musste so etwas Ähnliches wie das Träumen sein. Im Traum entwickeln Inhalte ein Eigenleben, wie die Geister bei Goethes Zauberlehrling. Wenn dann aus dem Unterbewusstsein der Befehl kommt: „In die Ecke, Besen, Besen, seid’s gewesen, denn als Geister ruft euch nur zu seinem Zwecke, erst hervor der alte Meister“, blieben diese Inhalte „in der Ecke“, im Unterbewusstsein. Sie schafften es nicht, bis in das Bewusstsein aufsteigen, konnten sich aber in der Mimik widerspiegeln.
Bei der täglichen Pflege achtete ich sorgfältig auf Toscas Unterschenkel, deren Haut sich in eine dünne, äußerst verletzliche Pergamenthaut verwandelt hatte. Um Verletzungen durch die harte Kante der Bettumrandung auf der Pflegeseite zu vermeiden, hatte ich einseitig geschlitzte Rohrisolierung aus dem Baumarkt über die Kante geschoben. Um Verletzungen durch Quetschung zu vermeiden, war viel Fingerspitzengefühl erforderlich. Passierte trotzdem etwas, behandelte ich weggeplatzte Haut mit einem Desinfektionsmittel aus der Sprühflasche und Wattestäbchen. Bei sorgfältiger Weiterbehandlung gelang es mir mehrfach, größere Hautstücke wieder anheilen zu lassen. Die verletzten Hautstellen schützte ich großzügig mit übergroßen Pflastern. Sie wurden so gewählt, dass der Mull die nässenden Stellen bedeckte. Beim Ablösen war Fingerspitzengefühl erforderlich, um zu vermeiden, dass die Wunde erneut aufriss. Bei täglichem Wechsel und Einsprühen mit dem Desinfektionsmittel bestand keine Infektionsgefahr für die Wunde.
Rettungsaktionen mit dem Pegasus-Set PM-A-4225 der Firma Petermann fanden insgesamt sieben Mal statt, davon drei im aktuellen Pflegejahr 2017. Über das erste Mal vom 29. Januar ist im Protokoll lediglich „70 Minuten“ vermerkt. Auch beim zweiten und dritten Mal, Anfang und Mitte März, konnte ich das Problem allein lösen. Beim zweiten Mal war Tosca beim Eincremen des Rückens im Badezimmer aus dem nassen Duschrollstuhl nach vorne auf den Fußboden ge-rutscht. Mir war nichts Anderes übriggeblieben, als sie auf dem Rutschtuch vor das Bett zu ziehen und sie dort auf Höhe der Matratze hochzukurbeln. Nach 80 Minuten war sie ohne fremde Hilfe wieder im Bett. Auch beim dritten Mal, als sie vor dem Bett vom Rollstuhl abgeglitten war, musste ich niemand um Hilfe bitten.
In dieser Zeit hatte ich beim Sanitätshaus den Patientenlifter Invacare Reliant 350 bestellt, hatte dann aber wegen der Größe des Geräts im Vergleich zum zur Verfügung stehenden Stellplatz Bedenken bekommen und die Bestellung storniert.
Tosca empfing sehr gerne Besuche. Wenn sich jemand angekündigt hatte, besorgte ich in unserer nahen Konditorei reichlich Kuchen und fuhr den auf dem Dachboden bereitstehenden Servierwagen in das Krankenzimmer. Ein Beistelltisch ergänzte die Anzahl der Sitzplätze, so dass bei besonderen Anlässen bis zu sieben Besucher empfangen werden konnten. Als alleiniger Betreuer war ich voll damit ausgelastet, den Empfang vorzubereiten. Dies machte nicht nur mir Freude, sondern vor allem Tosca. So viel Leben um sie herum entspannte sie und machte sie glücklich.
Kleine Gastgeschenke nahm sie gerne im Empfang. Musik ihr zuliebe war eines der schönsten Geschenke und konnte helfen, sie alle Beschränkungen ihrer Selbständigkeit vergessen zu lassen. Unsere Freunde Wilmar, Nikolai und Fjodor überraschten sie mit musikalischen Beiträgen. Wilmar hatte seine Klarinette mitgebracht und gab ihr ein Geburtstagsständchen. Nikolai packte seine Violine aus, was Tosca an ihre eigene Geige erinnerte. Er gab zwar vor, lange nicht mehr gespielt zu haben, aber er konnte es eindeutig noch sehr gut. Bei Fjodor wurde es sogar professionell. Der Musiker mit Leib und Seele bot ihr auf der Violine eine eigene Komposition. Es war nicht das erste Mal, dass wir eine Kostprobe seiner Kunst zu hören bekommen hatten.
Als eines Tages außer mir auch Tosca im Ruhestand war, überlegten wir uns, ob wir unseren Wohnsitz nach Fuerteventura verlegen sollten. Wir verzichteten nach gründlichem Nachdenken aus mehreren Gründen darauf. Die beiden Hauptgründe waren der Freundeskreis und das Haus. Mit unseren hiesigen Freunden verbanden uns viele gemeinsame Erlebnisse und Ereignisse. Mit ihnen konnte man sich über sehr vieles austauschen, was mit neuen Freunden nicht möglich gewesen wäre. Unser Haus bot Blickpunkte in Hülle und Fülle, die unersetzliche Erinnerungen bedeuteten. Darauf wollten wir auch nicht verzichten.
Hinzu kamen Argumente wie fehlende Jahreszeiten mit fast immer gleichem, blauem Himmel, schlechte Gesundheitsversorgung auf der Insel und ein zu oft abgefahrenes, sehr begrenztes Straßensystem, wo man jeden größeren Felsblock, jeden Busch und jede andere Sehenswürdigkeit auf den beiden Straßenseiten kannte und über kurz oder lang schon wieder an der Küste angelangt war.
Von ihren eigenen vier Wänden, ihrem eigenen Mann und jetzigen Betreuer Puma, sowie von lieben Freundinnen und Freunden umgeben zu sein, bedeutete für Tosca ganz sicher Geborgenheit und damit Stärkung ihrer inneren Abwehrkräfte gegen ihre Erkrankung.
Wenn sie auf ihrem Krankenlager geradeaus blickte, sah sie den Erzengel Gabriel, einen Gobelin, den sie nach einem Entwurf des im Oldenburgischen sehr bekannten Künstlers Erich Klahn selbst an ihrem Hochwebstuhl gewoben hatte. Über Erich Klahn konnten ihre Gedanken weiter zu ihrer Mutti wandern, die mit Klahn auf künstlerischer Ebene befreundet gewesen war. Dann war sie gedanklich auch schon in Holzminden an der Weser, wo sie nach der Flucht aus Breslau zusammen mit ihrem Bruder Onit im Internat am Solling aufgewachsen war.
Über nichts freute sie sich mehr, als über einen Besuch ihres Bruders Onit und ihrer Schwägerin Elise. Tage, oder sogar Wochen nach einem solchen Besuch ging es ihr in jeder Beziehung besser, worüber ich ihnen gerne berichtete. Sie genoss es, einfach dazuliegen und der Unterhaltung zwischen Onit und Elise zuzuhören. Der Klang dieser Stimmen hallte in ihrem Gedächtnis wider und berührte ihre Seele ganz sicher sehr tief. Wenn Onit beruflich in Süddeutschland zu tun hatte, richtete er es häufig so ein, dass er mit Elise bei uns übernachten konnte. Damit leistete er einen wichtigen Beitrag zu meiner Pflegetätigkeit, worüber ich ihm immer sehr dankbar war.
Nur 10 Tage nach dem motivierenden Besuch von Elise und Onit war ich völlig überraschend mit einem Notfall konfrontiert. Abends war mir Toscas ruckartige, kurze Atmung aufgefallen. Etwas stimmte nicht mit ihr. Morgens schien alles wieder normal. Ich wechselte die Windel. Sie hatte auch Stuhlgang gehabt. Dann drehte ich sie in Seitenlagerung.
Drei Stunden später brachte ich ihr einen Tee. Als sie zu schlucken versuchte, erbrach sie sich und war nicht mehr ansprechbar. Sie hatte Puls, es konnte kein Herzinfarkt sein. Ich vermutete, es müsse sich entweder um Epilepsie oder um einen Schlaganfall handeln. Mir blieb nichts Anderes übrig, als über den Hausnotruf einen Krankenwagen und den Notarzt anzufordern. Unter Umständen kam es jetzt auf wertvollste Minuten zum Überleben an.
Tosca wurde im Tragetuch nach unten zum Krankenwagen transportiert, und ich musste erst einmal warten. Als ich mittags in der Klinik anrief, sagte man mir, sie sei noch in Behandlung. Beim nächsten Anruf hieß es, der behandelnde Arzt habe in der Computertomographie, der CT, keine intrakranielle Einblutung oder Anzeichen für einen Schlaganfall gefunden. Gott sei Dank!
Aus dem Arztbrief konnte ich später entnehmen, dass sich im Vergleich zu der Voruntersuchung vom Februar 2016 ein zur Gehirnmitte hin verstärkter Gewebeschwund zeige. Alzheimer wütete im Zwischenhirn, dem Thalamus, dem Tor zum Bewusstsein. Ein sehr beunruhigender Gedanke.
Dann wurde über eine Vergrößerung der mit Hirnwasser gefüllten Hohlräume im Gehirn berichtet. Die Vergrößerung entsprach der Verkleinerung der Hirnmasse. Zusätzlich sei eine für die Alzheimer-Erkrankung typische Verkalkung der kleinen Hirnarterien sehr auffällig. Alzheimer befand sich also konsequent auf dem Vormarsch. Man konnte ihm nur noch Steine in den Weg legen. Dies würde ich in engster Zusammenarbeit mit Tosca tun. Mein künftiger Pflegeauftrag war damit umrissen. Ich hatte den Nahkampf mit Alzheimer aufgenommen. Er sollte so lange wie irgend möglich auf seine Beute warten müssen.
Ich wollte mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln kämpfen. Statt eines Bajonetts stand mir meine simultan erwiderte Liebe zu Tosca zur Verfügung. Anstelle der Fäuste boxte ich mit Seitenlagerung, Hygiene und Musik gegen das unsichtbare Phantom an.
Die CT des gesamten Unterleibs mit Kontrastmittel hatte einen unvollständigen Verschluss des Dünndarms mit Aufstauung des Darminhalts bis zur Speiseröhre hinauf ergeben, was das Erbrechen am Morgen verursacht hatte. Außerdem war eine Koprostase, die schwerste Form der Verstopfung festgestellt worden. Toscas ungesunde Lebensweise hatte sich negativ auf ihr Magen-Darm-System ausgewirkt. Ein Darmverschluss wäre lebensbedrohlich gewesen.
In den folgenden drei Tagen fuhr ich täglich zwei- bis dreimal in das Krankenhaus und verfolgte, wie Tosca in der Intensivstation hochprofessionell behandelt wurde. Am vorletzten Tag vor ihrer Entlassung konnte sie wieder sprechen. Als ich sie fragte: „Wie geht’s?“, sagte sie tapfer: „Okay! Hier ist jetzt Schluss – ich gehe“!
Geliebte Tosca, was hast Du wieder Schreckliches durchgemacht! Was steht Dir noch alles bevor?
Ich wollte sie mit meinen Besuchen auf der Intensivstation etwas aufmuntern. Am Samstag reichte ich ihr einen ganzen Teller Kartoffelsuppe. Ein neues verdauungsförderndes Medikament hatte ihr wieder zu Appetit verholfen. Die Ärzte hatten die schwere Verstopfung zumindest für den Moment beseitigt. Am Sonntag war ich pünktlich zur Visite gekommen und hörte den Chefarzt sagen: „Morgen Entlassung“. Zur Sicherheit fuhr ich am nächsten Morgen nochmals hin. Die freundliche Krankenschwester, wie ich erfahren hatte, eine ehemalige Schülerin meiner Frau, sagte: “Ihre Frau wird nachmittags abgeholt“.
Am Montagnachmittag war sie von der Oberschwabenklinik wieder zurück und konnte sich in der wieder aufgenommenen Routine unseres Pflegealltags entspannen. Die CD: Natural Classics, ruhige Momente vor dem Sturm, half ihr dabei. Glücklicherweise war der Sturm am 30. Oktober 2017 ja nun gerade vorbei.
Nach drei Jahren als Patientin war sie nun anfällig für Krankheiten aller Art geworden, vor allem aber für Infektionskrankheiten. Ihr Immunsystem war offensichtlich geschwächt. Sie musste mit allen Mitteln vor Infektionen geschützt werden. Sie war bei mir und meinen Mitstreitern, unserem Hausarzt Dr. Löwe und Toscas Physiotherapeutin Mascha Schneider, in guten Händen. Das Thema Hygiene war auch Bestandteil meiner Lehrtätigkeit gewesen, was bedeutet, dass sie auch mit praktischen Übungen für meine Studierenden verbunden gewesen war. Da hatte ich alles im Griff.
Am 12. Dezember 2017 notierte ich um 13:05 Uhr in das Pflegeprotokoll: „Verdacht auf Hämaturie“, und um 17:35 Uhr: „Verdacht bestätigt“. Der Urin war am Morgen noch klar gewesen, im Tagesverlauf war dann immer mehr Blut in der Windel. Auf Grund meiner Erfahrungen mit der hämorrhagischen Zystitis vom November 2016 hatte ich nur eine Wahl, das Krankenhaus. Über den Hausnotruf alarmiert, wurde Tosca schon eine Stunde später vom Deutschen Roten Kreuz abgeholt.
In der Oberschwabenklinik wurde eine Blasentamponade diagnostiziert, eine Verstopfung der Harnblase durch geronnenes Blut im Urin. Eine Blasentamponade ist eine schwere Erkrankung, die bei Verschleppung lebensgefährlich werden kann. Ich hatte also richtig gehandelt.
In der Urologie wurde die Verstopfung der Harnblase vorsichtig beseitigt, wodurch sich, wie im Bericht beschrieben, reichlich verunreinigter Urin entleerte. Diese Prozedur konnte nur von geschulten Fachärzten und Fachärztinnen durchgeführt werden. Dazu gehörte auch die nachfolgende Blasenspülung mit Hilfe des schon 2016 angewandten Blasenspülkatheters über die Harnröhre und die medikamentöse Behandlung.
Es wurde weiter berichtet, dass sich während der Blasenspülung die Spülflüssigkeit zusehends aufgeklart hatte, dass aber nach der Entfernung des Spülkatheters noch sehr hohe Restharnmengen sonographisch nachweisbar waren. Ich zitiere wörtlich aus dem vorläufigen Arztbrief: „In Zusammenschau wurde die Indikation zur suprapubischen Harnableitung gestellt. Die Einlage erfolgte komplikationslos am 18.12.2017“. Ich war zuvor gefragt worden und hatte zugestimmt, da mir die damit verbundenen Probleme noch nicht bekannt waren. Man hätte mich darauf hinweisen müssen, dachte ich spätestens am 9. Februar 2018.
Am Abend des 18. Dezember 2017, Tosca war schon wieder richtig zu Hause angekommen, leerte ich zum ersten Mal den Inhalt des Urinbeutels, der an den suprapubischen Katheter angeschlossen war, und notierte „Pflegeerleichterung“. Ich atmete auf. Ich konnte nicht ahnen, dass der Traum schon nach 37 Leerungen oder 5 Wochen wieder zu Ende sein würde.
Tosca war unruhig. Sie betastete das ungewohnte, kalte Etwas an ihrem Bauch. Es machte ihr Angst. Als ich sie abends auf die Seite lagerte, wirkte sie angespannt und verkrampft. Ich beruhigte sie: „Du hast jetzt immer trockene Windeln, das muss doch für dich sehr angenehm sein. An den Schlauch wirst du dich sicher bald gewöhnen“. Sie sah mich ungläubig an, schloss aber dann doch die Augen und schlief bald ein.
Der Traum vom sicheren Pflegen mit Hilfe des neuen, noch ungewohnten Bauchkatheters hielt noch. Siegesgewiss entleerte ich die Urinbeutel in eine Schüssel und schüttete den Inhalt in die Toilette. Es schien alles bestens zu funktionieren. Aber schon am dritten Tag musste ich feststellen, dass kein Stuhlgang mehr kam. Der Bauchkatheter musste mit Hilfe von Schlitzkompressen verbunden werden. Dr. Löwe führte mir die Technik vor, und ich bat ihn, mir auch das professionelle Klistieren zu zeigen. Er machte dies zur Sicherheit gleich zweimal. Der Erfolg blieb aus. Ebenso tags darauf nach zwei Klistieren und entspannendem Medikament. Ich war verzweifelt. Am nächsten Tag, am Tag vor Heiligabend, setzte ich dreimal nacheinander ein Klistier und schob jedes Mal den Cleanius unter. Es war alles umsonst.
So kam es dann, dass ich schließlich an Heiligabend den Rettungsdienst anfordern musste, der mit drei Helfern und einem Tragestuhl kam. In der Notaufnahme war ich kurz sprachlos, als ich unfreundlich angeherrscht wurde, wie man denn wegen einer Verstopfung an Weihnachten ins Krankenhaus kommen könne. Verstehen konnte ich diese Reaktion. Man konnte nicht wissen, in welcher Notlage ich mich befand.
Nach der Aufnahme in die Klinik für Innere Medizin erfolgte eine körperliche Untersuchung, aus der ich unter anderem entnehmen konnte, dass Tosca bei einer Körpergröße von 170 cm 80 kg wog. Ihr Gewicht war also konstant geblieben.
Im vorläufigen Arztbrief entdeckte ich ein ungewolltes Kompliment für mich selbst auf Kosten von Tosca. Ich zitiere wörtlich: „Fremdanamnese Sohn: Patientin wohl im Allgemeinzustand verschlechtert. Könne kaum mobilisiert werden. Abführende Maßnahmen einschließlich Klysma bisher ohne Erfolg“. Der „Sohn“ ist neun Jahre älter als seine „Mutter“, ein nettes Versehen. Als Kompliment war es sicher nicht gedacht gewesen.
Die weitere Behandlung konnte wieder nur von ärztlichem Fachpersonal ausgeführt werden, was die Richtigkeit meiner Einlieferung bestätigte. Die festgestellte beginnende innere Austrocknung musste durch vorsichtige Einleitung von Flüssigkeit in den Darmbereich behandelt werden. Die zusätzlichen abführenden Maßnahmen wurden nicht näher beschrieben.
Während ich Tosca über den ungewöhnlichen Weihnachtsabend hinwegtröstete und bei Handreichungen behilflich war, wurde mit der Therapie begonnen. Es war keine unnötige Einlieferung in das Krankenhaus gewesen. Meine ambulanten Normalbehandlungen waren nicht ausreichend gewesen. So verbrachte ich Weihnachten im Clinic-Home-Interface, wie sich die besondere Betreuung der Oberschwabenklinik für schwerkranke Patienten nennt, denen ein kurzer Aufenthalt in den eigenen vier Wänden Erleichterung bedeutet. Bei mir war es umgekehrt.
Bei meinem Morgenbesuch am ersten Weihnachtsfeiertag reichte ich Tosca die Suppe an. Sie erkannte mich nicht. Nachmittags war sie wieder ansprechbar. Wir stellten uns vor, was wir jetzt zu Hause tun würden. So wurde die Stimmung doch noch weihnachtlich. Wir erinnerten uns auch daran, dass wir an Heiligabend mehr als einmal in irgendeinem Flughafen auf den Abflug gewartet hatten. Nachdem ich das weihnachtliche Abendbrot angereicht hatte, fuhr ich in mein leeres Haus zurück, und erfuhr noch am Abend, dass der Einlauf erfolgreich gewesen sei und man mit der neuen Medikation begonnen habe. Es ging wieder aufwärts.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag hatte ich ein sehr informatives und verständnisvolles Gespräch mit dem Chefarzt Prof. Wiedemann. Bei meinem zweiten Besuch war Tosca sehr still und hielt die Augen auch beim Essen geschlossen. Aber tags darauf erfuhr ich, dass die Entlassung bevorstehe.
Nach 5 Tagen in der Inneren war Toscas Zustand wieder stabilisiert. Drei Tage vor Silvester half ich dem Deutschen Roten Kreuz bei der Vorbereitung des Rücktransports und später bei der Benutzung des Treppenlifts zur Rückkehr in unser privates Krankenzimmer. Ich konnte aufatmen. Wir konnten uns wie gewohnt auf den Jahreswechsel einstellen.
Die letzten Tage des „roten“ Jahres waren erfüllt von Weihnachtsmusik aus unserer umfangreichen CD-Sammlung. Ganz entspannt leerte ich immer wieder zweimal täglich die Urinbeutel. Ich deutete dies als gutes Vorzeichen für das kommende Jahr 2018. An Silvester erneuerte ich vorsichtig den Verband am Bauchkatheter mit den praktischen Schlitzkompressen, und abends kam auch der normale Stuhl wieder.
Katheter (2018), die Gelbe Phase
Der Januar 2018 verlief in ruhiger Routine. Den spürbar geringeren Pflegeaufwand hatte ich dem neuen Bauchkatheter zu verdanken. Den Verband hatte ich inzwischen 11-mal ohne Probleme gewechselt, den praktischen Urinbeutel 37-mal geleert und einmal sogar gegen einen neuen ausgetauscht. Man konnte den langen Schlauch des Urinbeutels vorsichtig am kurzen Verbindungsstück zum Bauchkatheter lösen und diesen dann mit dem neuen Urinbeutel verbinden. Dies war in erster Linie eine ästhetische Maßnahme, weil der Urinbeutel im Laufe von Wochen unansehnlich wurde. Er bot den blaugrünen Bakterien, die auch Blaualgen genannt werden, ein ideales Biotop. Der Urinbeutel hatte sich innen in allen Farbtönen von grün über blau nach schwarz verfärbt.
Am 8. Februar kam Dr. Löwe zum fälligen Wechsel des Bauchkatheters. So erfuhr ich, dass dieser Wechsel aus hygienischen Gründen etwa alle 6 Wochen von einem Urologen oder einer Urologin ausgeführt werden müsse. Das beunruhigte mich im Moment nicht weiter, da unser Hausarzt Facharzt für Urologie war.
Als ich am nächsten Morgen den Urinbeutel leeren wollte, erschrak ich tief. Statt der erwarteten etwa 600 ml Urin waren es nur 200 ml. Ein Blick unter Toscas Bettdecke bestätigte den ersten Verdacht. Der Bauchkatheter war aus der Harnblase herausgerutscht und lag auf Toscas Bauch. Die vom Urologen nach dem Wechsel des Katheters mit einer speziellen Flüssigkeit gefüllte Blase, die den Schlauch im Inneren der Harnblase zu verankern hatte, war geplatzt.
Ich dachte zuerst, da müsste dann eben die Prozedur noch einmal durchgeführt werden. Aber es kam anders. Unser Hausarzt war schon am Nachmittag wieder bei Tosca, konnte aber den neuen Katheter nicht setzen. Der Zugang zur Harnblase war eben kein natürlicher Gang.
Ich erinnerte mich damals an einen Artikel aus der Zeit Nr. 03 / 1990 von Viola Roggenkamp, wonach ein Junge nach dem Sexualunterricht in der Schule zu dem Schluss gekommen war, die Frau sei ein Gewirr von Gängen. Die in die Bauchdecke gesetzte Wunde war das eben nicht. Die Wunde hatte sich zusammengezogen. Der neue Katheter konnte nur von einer chirurgischen Fachkraft operativ gesetzt werden.
Mir wurde schwindlig. Was kam da auf uns zu. Meine arme Patientin nach Voranmeldung mit dem Krankenwagen in eine Klinik transportieren lassen und nach der Operation wieder zurück. Nach sechs Tagen „Nasstechnik“ war ich so erschöpft, dass mir das sogar plausibel vorkam. Zunächst setzte Dr. Löwe einen transurethralen Katheter, einen Katheter durch die Harnröhre. Wäre ich doch schon damals auf die Idee gekommen, dass dies die beste Lösung für Tosca sei.
Stattdessen ließ ich mir einen Termin im damaligen Krankenhaus 14 Nothelfer geben.
Schon nach 4 Tagen war es so weit. Der Malteser Hilfsdienst holte Tosca ab und wir warteten vor der Chirurgie. Die freundliche Chirurgin fragte neben der Vorbereitung der Operation, ob Tosca ein blutverdünnendes Medikament nehme. Mich durchzuckte ein Schreck. Daran hatte ich nicht gedacht. So wurden wir freundlich gebeten, das Aspirin protect abzusetzen und in 10 Tagen wieder zu kommen. Jetzt war bei mir endlich der Groschen gefallen. Der Bauchkatheter war eine falsche ärztliche Entscheidung gewesen. Diesen Vorwurf musste ich dem behandelnden Arzt machen.
Der natürliche Gang war die natürlichste und einfachste Lösung. Es blieb dann auch dabei. Zum Katheterwechsel hatten wir ja den unvergleichlichen, jugendlich wirkenden Dr. Löwe, der dies bei einem Hausbesuch erledigen konnte. Sein Besuch glich einem frischen Windstoß durch das ganze Haus. Nicht, dass er es eilig gehabt hätte. Manchmal musste er an der Haustüre etwas warten, bis ich die Treppe herunterkam. Durch die matte Glasscheibe war die große, schlanke Gestalt mit der danebenstehenden Arzttasche zu erkennen.
Von nun an lief die Prozedur des Katheterwechsels für Tosca kaum merkbar ab. Nach kurzer, freundlicher Begrüßung eilte Dr. Löwe mit langen schnellen Schritten die Treppe hinauf. Mit wenigen Griffen war die grüne hygienische und verhüllende Einwegfolie mit Arbeitsöffnung in der Mitte positioniert, auf der er arbeitete. Die Verankerung in der Harnblase wurde mit Hilfe einer Einweg-Saugspritze geleert und der neue Katheter geschickt durch den Gang, den kurzen weiblichen Harnleiter geschoben. Ein paar weitere Handgriffe waren noch erforderlich. Die neue Verankerung musste mit der gefüllten, hygienisch verpackten Einweg-Druckspritze aufgepumpt werden. Dazu war extremes Fingerspitzengefühl erforderlich. Bald hatte sich herausgestellt, dass eineinhalb Druckspritzen die optimale Verankerung gewährleisteten.
Aus meinem im Keller kühl gelagerten Vorrat hatte ich auch schon einen neuen, wie alles andere hygienisch verpackten Einmal-Urinbeutel bereitgelegt, und bald darauf war der Katheter gewechselt. Der Plastikmüll wurde von mir sortiert und entweder in einen der damals üblichen gelben Säcke oder in den Restmüll getan. Dr. Löwe hatte sich freundlich verabschiedet, und ich war wieder einmal meiner Rolle als Hilfsassistent gerecht geworden.
Der erste Katheterwechsel dieser neuen Art fand am 15. Februar 2018 statt, und dann in der Folge durchschnittlich einmal pro Monat. Mein Protokoll weist 50 Einträge aus. Natürlich ging nicht immer alles glatt. Der Katheterwechsel blieb aber eine entscheidende Konstante im Auf und Ab des Krankheitsverlaufs. Er bedeutete bei Toscas fortgeschrittener Erkrankung einen wichtigen, lebensverlängernden Faktor. Bei allem Unglück, das Tosca erleiden musste, war Dr. Löwe der große Glücksfall bei ihrem jahrelangen Martyrium.
Im August 2016 war Tosca von der Pflegestufe 2 in die höchste Pflegestufe 3 gekommen. Von der Pflegeversicherung erhielt ich die Nachricht, dass damit „regelmäßige Beratungsbesuche eines anerkannten Pflegedienstes (z.B. einer Sozial- oder Diakoniestation) erforderlich“ seien. Weiter hieß es: “Die pflegenden Angehörigen erhalten Unterstützung und individuelle Tipps zur Erleichterung der täglichen Pflegearbeit. Bitte lassen Sie sich einmal im Vierteljahr beraten. Als Nachweis dient der beiliegende Berichtsbogen. Die rechtzeitige Rücksendung stellt die weitere Zahlung des Pflegegeldes sicher. Der erste/nächste Einsatz sollte bis zum 31.03.17 erfolgen“.
Zitiert habe ich aus einem Schreiben der Pflegeversicherung vom 03.11.16. Diese ist eine Abteilung unserer privaten Krankenversicherung.
Da fiel mir wieder die sympathische Leiterin des mobilen Pflegedienstes ein, Kateryna Tasci, die ich vor einem Jahr gebeten hatte, den Pflegevertrag ruhen zu lassen. Es stellte sich heraus, dass diese Beratungsbesuche ohnehin ein Teil ihrer Berufstätigkeit waren, und sie stimmte bereitwillig zu, diese Aufgabe zu übernehmen.
Ganz so schnell ging es dann doch nicht. Der erste Besuch konnte für den 04.05.17 vereinbart werden. Ich hatte das Krankenzimmer für einen freundlichen Empfang vorbereitet. Das Beratungsgespräch musste aus meiner Sicht in Gegenwart von Tosca stattfinden. Es sollte sich auf die augenblickliche Situation der Kranken beziehen können. Ihre Mimik, Gestik und Körpersprache sollten Gegenstand von Fragen und Überlegungen sein.
An der Haustüre erkannte ich ihre hohe und schlanke Gestalt. Auch ihre Spezialität, lange, lockere Gewänder, konnte ich durch die matte Türglasscheibe erkennen. Es gab ein sehr freundliches Wiedersehen. Dies wiederholte sich, als sie Tosca begrüßte. Sie verschaffte sich rasch einen Überblick über Toscas Befindlichkeit. Dann konnte ich meine Sorgen und Nöte im Zusammenhang mit meiner amateurhaften Tätigkeit vertrauensvoll vorbringen. Ich merkte schnell, dass es nicht um eine Kontrolle ging. Es war kein Abhaken von Punkten auf einer Liste von Fragen. Mein Bericht über den abgelaufenen Zeitraum war ebenso Gesprächsgegenstand wie meine Vorhaben für das kommende Vierteljahr und die fernere Zukunft.
Frau Tasci hatte ihren eigenen Berichtsbogen dabei. Ihre Beurteilung umfasste einen schwungvoll niedergeschriebenen Satz. Im Formular „Nachweis über einen Beratungseinsatz nach § 37 Abs. 3 SGB XI vom 13.03.18 hatte sie den Punkt: „Die Pflege- und Betreuungssituation wird aus Sicht der/des Pflegebedürftigen sowie der Pflegeperson wie folgt eingeschätzt:“ „Der Ehemann ist zufrieden mit AZ (AZ = Allgemeinzustand) seiner Frau. Obstipation weiterhin“. Und beim Punkt „Nach Einschätzung der Pflegefachkraft ist die Pflege- und Betreuungssituation sichergestellt:“ hatte sie das Kästchen „Ja“ angekreuzt. Dann überreichte sie mir die Dokumente zum Versand an die Pflegeversicherung und verabschiedete sich bis zu ihrer nächsten Beratung. Auf den nächsten Termin wurde ich immer rechtzeitig von der Pflegeversicherung hingewiesen. Jetzt hatte ich mit Dr. Löwe, der Physiotherapeutin Mascha Schäfer und Kateryna Tasci drei professionelle Beraterinnen und Berater, die ich auch dringend benötigte und oft in Anspruch nahm.
Im Jahr 2017 gab es noch zwei weitere Beratungen, in den beiden folgenden Jahren dann ganz regelmäßig eine pro Vierteljahr, bis auf eine Ausnahme, als ich am 25. September 2018 einen Anruf erhielt, Frau Tasci habe an einer roten Ampel einen Auffahrunfall verursacht. Der Termin wurde dann am 2. Oktober nachgeholt. Der Unfall war glimpflich verlaufen.
Am 14. Februar 2018 notierte ich: „Tosca geht es schlecht – mache ich noch Palliativpflege oder schon Sterbebegleitung?“ Wegen des trüben Urins gab ich das schon bei ihr bewährte Antibiotikum. Ich konnte sehr viel schneller auf Unregelmäßigkeiten reagieren, seit der Urin nach Aussehen und Menge kontrollierbar war. Das Antibiotikum wirkte sofort, nach 12 Stunden war der Urin wieder klar.
Anfang März erhielt ich wieder einen Einblick in Toscas Befindlichkeit. An der kurzen Unterhaltung: „Kann der jetzt nicht still sein?“ „Wer?“ „Der Mann.“ „Da ist kein Mann“ merkte ich, dass sie den kurz vorher aufgelegten Blues falsch interpretiert hatte. Natürlich schaltete ich die Musik daraufhin ab. Aber ich machte mir Sorgen.
Mit Tosca ging es wieder bergab. Am Abend des 6. März 2018 schrieb ich in mein Protokoll: „23:00 Uhr, Schlafzimmer, >S<, also Seitenlagerung, große Apathie, ganz schlechter Tag“. Tosca konnte kaum noch trinken und war völlig apathisch. Tags darauf schickte ich an ihren Bruder Onit eine E-Mail mit dem Inhalt: „Tosca kann weder essen noch trinken“. Der herbeigerufene Hausarzt stellte Dehydrierung fest und reagierte auf die bedrohliche Situation mit einer provisorischen Infusion in die Bauchdecke. Für den nächsten Morgen bestellte er einen Krankentransport.
Wegen einer örtlichen Grippewelle war im nahen Elisabethen-Krankenhaus in Ravensburg kein Zimmer frei. Tosca wurde nach Bad Waldsee gebracht und ich fuhr hinterher. Der Befund war Dehydrierung gewesen. Darüber hatte ich informiert, als ich kurz nach dem Krankenwagen in der Klinik eingetroffen war. Auf der Station für innere Medizin wurde sofort mit einer Infusionstherapie begonnen. Wie ich später erfuhr, hatte das Krankenhaus tags darauf gleich vormittags ohne Rücksprache mit mir einen Krankentransport nach Ravensburg angeordnet, um eine Untersuchung auf Schlaganfall machen lassen zu können. Hätte ich das gewusst, hätte ich das kategorisch abgelehnt.
Ich war damals selbst in Behandlung und war an diesem Morgen als Patient in der Strahlentherapie der Oberschwabenklinik. Bei der Besprechung meiner Befunde bemerkte der Röntgenologe nebenbei, er habe gerade das Ergebnis einer CT meiner Frau aus der Stroke Unit erhalten, wo ein Verdacht auf Schlaganfall untersucht worden war, auf seinen Computer erhalten. Ich könne mir diesen gerne ansehen. Die CT habe keinen Hinweis auf einen Schlaganfall erbracht.
Mir verschlug es fast die Sprache. Die letzte CT war gerade ein halbes Jahr zuvor auf derselben Station gemacht worden. Meine Recherche im Internet über die Informationspflicht eines Krankenhauses gegenüber Angehörigen - die wörtlichen Zitate stehen in Anführungszeichen - „wenn es um die Entscheidung der weiteren Behandlung des Patienten geht“, ergab: „Hier werden meistens die Lebensgefährten zu Rate gezogen, da diese oft am besten über den Willen ihres Partners Bescheid wissen“.
Demnach hatte ich zwar keinen Rechtsanspruch darauf, vor der Entscheidung über die Durchführung dieser inzwischen vollzogenen CT gehört zu werden, eine moralische Verpflichtung hätte aber durchaus bestanden. Einer schwerstkranken Patientin wurde ein eigenmächtig entschiedener Hin- und Rücktransport über je 23 km zugemutet, einschließlich der damit verbundenen vier unangenehmen Übergänge von und zum Krankenwagen. Aus meiner Sicht ließ sich dies nur als mangelnde Rücksicht auf meine Patientin zugunsten der Erfolgsbilanz des Krankenhauses und der betreffenden Abteilung erklären.
Am frühen Nachmittag desselben Tages war ich wieder in Bad Waldsee und verlangte die sofortige Rückführung meiner Frau nach Hause. Ich legte meine General- und Vorsorgevollmacht vor. Meinem Anliegen wurde am nächsten Tage entsprochen.
Die Infusionsbehandlung war erfolgreich durchgeführt worden. Meine Frau erwähnte nichts von dem Transport nach Ravensburg und zurück. Sie hatte sich in einer Art Dämmerschlaf befunden und wohl nichts von der Aktion gemerkt. Die Infusionstherapie zeigte nachhaltige Wirkung und ich konnte meine häusliche Pflege wieder aufnehmen.
Meine eigenmächtige Handlung als General- und Vorsorgebevollmächtigter hatte wegen Verweildauerunterschreitung bei einer Grenzverweildauer von einem Tag zu einem Abschlag auf die Krankenhausrechnung von 66 % geführt, was den vierstelligen, ursprünglichen Rechnungsbetrag in einen dreistelligen verwandelte, ein kleiner Triumph für mich.
Eineinhalb Wochen später kamen Toscas Bruder Onit und meine Schwägerin Elise zu einem Übernachtungsbesuch. Der damit verbundene positive Impuls gab Tosca einen deutlichen Rehabilitationsschub.
Ich war froh, dass ihr Allgemeinzustand einer ruhigeren Grundstimmung gewichen war, aber die Neigung zur Obstipation nahm wieder zu. Ich versuchte, Tosca mit Hilfe von Bauchmassagen zu helfen und holte mir bei Dr. Löwe Rat ein, was ich tun könne, wenn wieder kein Stuhl käme und ich nicht mehr weiterwüsste.
Unser Hausarzt hatte meine Notsituationen miterlebt. Ich spürte, dass er mir die radikale Methode nur ungern preisgab. Ich nannte sie „Einlauf saline oral“. Der Inhalt eines Einmalklistiers von ca. 120 ml musste oral verabreicht werden, üblicherweise mit Hilfe der gewohnten Schnabeltasse, die damit nur halb gefüllt war. Die Salzlösung enthält Natriumphosphat, das in der EU als Lebensmittelzusatzstoff unter der Nummer E 339 „Natriumphosphate“ für bestimmte Lebensmittel mit jeweils unterschiedlichen Höchstmengen-Beschränkungen zugelassen ist (Quelle: Internet). Ich probierte ein Schlückchen, um zu wissen, was Tosca da zugemutet werden würde.
Die glasklare Salzlösung schmeckte kräftig sauer und kaum merkbar bitter. Mit etwas Überwindung konnte ich sie schlucken. Die Kosten-Nutzen-Rechnung ergab einen großen Nutzen bei geringen „Kosten“, die nicht materiell gemeint waren. Die Kosten bezogen sich auf die Überwindungsschwelle in physischer wie psychischer Sicht. Das Ergebnis war eindeutig: Der Zweck heiligt die Mittel. Damit stand mein Entschluss fest, diese Therapie in mein Repertoire aufzunehmen. Ich war beruhigt, wie damals, als ich den Pegasus erfolgreich getestet hatte. Ich würde im Notfall reagieren können.
Wie erwartet, ließ der Notfall nicht lange auf sich warten. Nachdem ich am dritten Tag je 20 Tropfen Abführmittel gereicht hatte, verlor ich die Geduld. Dr. Löwe hatte das Abführmittel verschrieben, um Einlauf saline oral möglichst selten anwenden zu müssen. Das Abführmittel sollte bei einer akuten Stuhlverstopfung die Entleerung des Darmes erleichtern. Mit den am Vorabend eingenommenen Tropfen sollte am nächsten Morgen die Wirkung eingetreten sein.
Am 5. Mai, dem dritten Tag ohne Stuhl, reichte ich gleich morgens Einlauf saline oral und schob Tosca den Cleanius unter. Abends trat der erwartete Erfolg ein, eher zu kräftig. Den Durchfall hatte ich in der Bettschüssel auffangen können. Tags darauf kam nochmals Durchfall. Dieses Mal hatte ich die Bettschüssel leider nicht untergelegt. Damit hatte ich mich selbst bestraft.
Der Rest des Jahres 2018 verlief ohne größere Zwischenfälle. Mit Hilfe des Katheters konnte der Urin entfernt werden, ohne dass ein Windelwechsel erfolgen musste. Der Inkontinenzartikel Windel wurde jetzt nur noch für den Stuhl benötigt.
Manche Äußerungen Toscas kamen spontan wie aus dem Nichts und ohne erkennbaren Zusammenhang mit der Gegenwart. Ich notierte sie auch deshalb, weil sie einen großen Seltenheitswert hatten. Ich dachte damals daran, dass ich sie vielleicht einmal für eine Veröffentlichung verwenden könnte. Ich hatte einen eigenen Verlag. Dann würden mir die wörtlichen Formulierungen sicher einen guten Dienst leisten können.
Sie sagte: „Wieso hängen unsere Zweige?“; „Was glaubt er, dass du tun könntest?“ „Ich hab‘ ne Wunde am Bein“. Einmal fragte ich sie, ob sie noch Tomatensaft wolle, und sie antwortete: „Ich kann mir das nicht vorstellen“. Auf meine Frage, ob sie noch Brot wolle, sagte sie, noch Brot kauend: „Wann hab‘ ich überhaupt“ – zögernd – „Brot bekommen?“ Sie sagte morgens beim Kaffeetrinken: „Und wievielmal bin ich hier angemeldet?“ Und am gleichen Tag beim Mittagessen: „Und was machen die?“ Ich fragte: „wer“. Und sie antwortete: „Die Malteser“, worauf ich sie mit den Worten beruhigte: „Es sind keine Malteser da“.
Überdenkt man diese Äußerungen, sind sie erneut ein Beweis für die fortschreitende Zerstörung von grauer Hirnsubstanz. Über intakte Bereiche waren jedoch noch immer Interaktionen mit der Umwelt möglich. So kam es immer wieder vor, dass sie sich konkret auf die aktuelle Situation bezog. Um 04:10 Uhr hörte ich einmal: „Was machst du?“. Ich antwortete: „Ich schlafe“. Um 04:35 Uhr dann erneut: „Pu, was machst Du?“. Darauf sagte ich „Ich schlafe noch, stehe aber bald auf“, worauf wieder Stille einkehrte. Nachdem sie ihren Morgenkaffee getrunken und ihr Honigbrot gegessen hatte, fragte sie: “Was kann ich noch haben?” Es war das erste Mal seit ihrer Erkrankung, dass sie mich um etwas gebeten hatte, und ich fragte zurück: „Hast du Hunger?“. Darauf kam ein klares: „Ja“.
Kurz vor Mitternacht sagte sie einmal wir früher zu mir: „Gute Nacht, Pum“. Ich war gerührt. Eines Sonntagmittags ergab sich sogar ein kleiner Dialog: „Was machst Du?“ „Ich räume auf, und dann muss ich überlegen, was es zu essen gibt. Ich bin ja auch Küchenchef“. „Wie lange bist du Küchenchef"? „Solange ich lebe, hoffentlich lange.“ Darauf lächelte sie, hatte also alles verstanden.
Am 6. Oktober 2018 wurde ich wieder in den Nahkampf gegen Alzheimer verwickelt. Toscas mir so vertrautes, liebes Gesicht hatte sich eines Nachmittags nach längerer Ruhepause plötzlich in eine Totenmaske verwandelt. Ich erschrak heftig und versuchte, sie mit flachen Handschlägen auf die Wangen wieder ansprechbar zu machen, ohne Erfolg. Ich notierte ein >H<, mein Zeichen für Hospizpflege, in mein Protokoll und wartete ab. Dann beruhigte ich mich in dem Gedanken, dass wieder ein epileptisches Ereignis stattgefunden hatte. Am nächsten Morgen war alles wieder normal. Meine Diagnose war wohl richtig gewesen.
Unser Hausnotruf war damals so eingestellt, dass ich morgens und abends zur gleichen Zeit den Alarmknopf drücken musste, um zu verhindern, dass der automatische Notruf gesendet wurde. Ich hatte das schon mehrmals vergessen oder den Notruf versehentlich selbst ausgelöst. Unsere freundliche Nachbarin Brigitte hatte sich in die Benachrichtigungskette des Deutschen Roten Kreuzes bei einem Notruf als erste Ansprechpartnerin eintragen lassen. Es war mehrfach vorgekommen, dass ich den als Anhänger um den Hals getragenen Sender bei Gartenarbeiten ausgelöst hatte. Wenn Brigitte mich nach einer solchen Benachrichtigung im Garten oder um das Haus herum entdeckte, war der Fall schnell geklärt.
Einmal waren alle vier Telefone der Benachrichtigungskette nicht erreichbar gewesen. Ich kam mit einem Korb Grünmüll um die Ecke, als mein netter Nachbar Giselher winkte und rief: „Bei dir steht der Krankenwagen vor dem Haus“. Ich hatte mit der Spitzhacke gearbeitet und dabei wohl den Notruf ausgelöst. Beim Krankenwagen war niemand. Da öffnete sich die Haustüre von innen. Die Rotkreuzhelfer waren schon im Krankenzimmer gewesen. Sie hatten gesehen, dass bei Tosca alles in Ordnung war und suchten nun nach mir. Ich entschuldigte mich. Man hätte es als gelungenen Test ansehen können, aber was für ein Aufwand! Laut Vertrag war der Einsatz kostenlos. Die Kosten musste das Deutsche Rote Kreuz selbst tragen. Dafür stand ihm aber auch unser stattlicher monatlicher Beitrag zur Verfügung.
Durch die kurzen Nächte und harten Arbeitstage als Einzelkämpfer war ich oft am Limit meiner körperlichen Leistungsfähigkeit. Am 9. November 2018 hatte ich wieder einmal vergessen, den Alarmknopf zu drücken, mich aber nach der Pflege zu einem Power Nop, einem kurzen Erholungsschlaf, auf mein Bett gelegt. Brigitte fand uns beide tief schlafend vor und musste mich erst einmal wachrütteln. Trotz dieses Ereignisses blieb sie ihrer Aufgabe treu. Respekt! Dieses besondere Erlebnis würde sie nie wieder vergessen.
Den Spruch von Dr. Murphy über die selten erwähnte, aber immer präsente Problematik des Stuhlgangs: „Von fünf Mal am Tag bis alle fünf Tage ist alles normal“, hatte ich mir zu eigen gemacht. Alle haben damit zu tun. War alles normal, war dies mit Wohlbefinden gleichzusetzen. Das galt auch für bettlägerige Menschen.
Gesunde Menschen hatten das Instrumentarium dazu in der Hand. Auch sie hatten sich ständig um das optimale Gleichgewicht zwischen Ernährung und Lebensweise zu kümmern. Hatten sie zu wenig Bewegung wegen einer entsprechenden Beschäftigung oder einfach aus Trägheit, wurde Bewegung in frischer Luft oder Ausübung irgendeiner Sportart notwendig. Andernfalls konnte das Problem mit dem Stuhlgang sehr lästig werden. Es konnte zu großen Anstrengungen auf der Toilette führen.
Bei Kranken waren für diese oft tägliche Schwerarbeit Hilfestellungen erforderlich. Nach belastenden Erfahrungen bei Obstipationen, Verstopfungen, begann ich endlich aus eigenen Überlegungen heraus mit Bauchmassagen. Mit der Signatur >B< im Protokoll konnte ich die Entwicklung dieses Themas gut verfolgen. Für das Pflegejahr 2018, beginnend mit dem 7. März, erzielte die Suche 563 Treffer. Das Thema Stuhlgang bildete so die Brücke zum kommenden Pflegejahr 2019, dem „Jahr der Bauchmassagen“, der „Braunen Phase“. Mit 1321 Treffern im Gesamtprotokoll war das Thema von zentraler Bedeutung geworden.
Von jetzt an massierte ich Tosca den Bauch morgens um ca. 7:30 Uhr als Abschluss der Morgenpflege und um ca. 21:30 Uhr als Abschluss des abendlichen Frischmachens vor dem Zähneputzen, Waschen und Eincremen. In den verbliebenen 300 Tagen des Jahres 2018 führte ich die oben genannten 563 Bauchmassagen durch, durchschnittlich also 1,9 Bauchmassagen täglich. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass die leidige orale Gabe von Einlauf saline zum letzten Mal am 16. Februar 2019 erfolgen musste. Eine Massage dauerte ca. 10 Minuten. Morgens war das kein Problem, aber abends, als Abschluss eines anstrengenden Pflegetages, kämpfte ich dabei oft gegen den Schlaf. Einmal verlor ich diesen Kampf sogar recht spektakulär, davon aber später mehr.
Bauchmassagen (2019), die Braune Phase
Mit einem Rezept zur manuellen Therapie gegen Hüftgelenkschmerzen – „10 x MT“ - nahm ich damals zum ersten Mal in meinem Leben die Hilfe einer Praxis für Physiotherapie für mich selbst in Anspruch. Zuerst war ich skeptisch. Was sollte man mit bloßen Händen gegen etwas erreichen können, was schon lange zum schmerzhaften, täglichen Begleiter geworden war. Aber schon nach wenigen Terminen merkte ich am eigenen Körper, wie intensiv Spezialistinnen und Spezialisten mit ihren eigenen Händen auf körperliche Probleme von Patientinnen und Patienten einwirken können. Dies war der Anstoß, mich über Bauchmassagen sachkundig zu machen.
Als Pflegeamateur hatte ich mich immer mit YouTube-Filmen weitergebildet, wenn ich auf ein neues Behandlungsproblem gestoßen war. Schnell wurde ich dort beim Thema viscerale Bauchmassage fündig, also Bauchmassagen, welche die Eingeweide zum Ziel haben. Mit Pflegeöl hatte ich bisher auch schon immer gearbeitet. Die Anatomie des Bauches war im Simulator meines Gehirns anschaulich, plastisch und farbig gegenwärtig. Ich wusste immer ganz genau, was sich unter meinen massierenden Händen befand und was ich dort erreichen wollte.
Als Biologe und Entwicklungsphysiologe hatte ich die drei sogenannten Keimblätter, das Ektoderm, Mesoderm und Entoderm, von der befruchteten Eizelle, der Zygote, bis zum fertigen Wirbeltierembryo gründlich studiert. Das Ektoderm oder äußere Keimblatt bildete die Haut, das Entoderm oder innere Keimblatt das Darmrohr, und das mittlere Keimblatt, das Mesoderm, die inneren Organe.
Ich hatte unter dem Mikroskop live verfolgt, wie sich der Urdarm in den Bläschenkeim einstülpt, die sogenannte Gastrulation. Der Urmund wird zum After, der Urdarm erreicht die gegenüberliegende Bläschenwand und markiert dort den späteren Mund. Aus dem Entoderm hatte sich damit die Region des späteren Darmrohres gebildet. Die Magen-Darmpassage, um die es bei der Bauchmassage zur Behandlung von Obstipationen geht, war angelegt.
Die Abfolge von Speiseröhre, Magen, Dünndarm, Wurmfortsatz, Dickdarm mit aufsteigendem, querliegendem und absteigendem Ast, Enddarm und After hatte ich immer klar und deutlich vor Augen. Das Thorax-Modell, das Modell des menschlichen Oberkörpers mit herausnehmbaren Organmodellen, das jedem Biologielehrer vertraut ist und in keiner Lehrmittelsammlung fehlen sollte, war auch bei meinen Lehrveranstaltungen immer griffbereit gewesen.
Manuelle Physiotherapie-Termine sind entspannte Situationen, bei denen sich Gespräche über allerlei Themen ergeben. So erfuhr Angela, meine Physiotherapeutin, von meiner häuslichen Pflegesituation und von meinem Anliegen. Ich erhielt fachkundige Erklärungen, die mein bereits angesammeltes Wissen zur Bauchmassage ergänzten. Meine Behandlungen wurden allmählich
besser, aber ich war mit meiner Leistung immer noch unzufrieden.
Gegen Ende meiner Serie von „10 x MT“ fragte ich Angela, ob sie an mir eine manuelle Bauchmassage modellhaft durchführen könne. Sie war freundlicherweise einverstanden. Ich erhielt eine Bauchmassage, bei der sie ihre eher sanften, aber sicheren Handbewegungen durch sachkundige Erklärungen ergänzte.
Als Erstes erklärte sie mir die vom Handballen zu den Fingerspitzen abrollende Handbewegung, mit der die Darmperistaltik, die Darmbewegung nach Intensität und Richtung unterstützt werden konnte.
Dann erfuhr ich zu meiner Überraschung, dass die Behandlung in umgekehrter Richtung auszuführen war, als ich es bisher gemacht hatte. Angela begann im Bereich des Enddarmes, ging dann über den absteigenden zum querliegenden und aufsteigenden Ast des Dickdarms bis zum Dünndarm. Abschließend wurde dann der Bereich Wurmfortsatz und Übergang vom Dünndarm zum Dickdarm mit größerer Tiefenwirkung und auch mit der Handkante massiert. Dies wurde mir für meine weitere Tätigkeit als Amateur-Physiotherapeut ganz besonders ans Herz gelegt, weil der aus dem Dünndarm angekommene Speisebrei oder Chymus hier am Beginn des Dickdarms sehr viel Gas bildet. Ich würde das Wohlbefinden meiner Patientin deutlich steigern können, wenn ich dadurch Blähungen mildern würde.
Zu Hause setzte ich mein neues Wissen in der täglichen Pflege in die Praxis um. Tosca fühlte sich bei den je etwa 10 Minuten dauernden Behandlungen morgens und abends sichtlich wohl. Mit den jetzt recht professionellen Bauchmassagen hatten wir gute Karten in der Hand. Das Jahr der Bauchmassagen konnte beginnen.
Im vergangenen Jahr war ich auf 1,9 Bauchmassagen pro Tag gekommen. Jetzt waren es noch 1,7 Bauchmassagen pro Tag, dafür aber sehr viel wirkungsvollere. Am Ablauf des Pflegejahres 2019 würde dies sicher erkennbar werden.
Es wurde ein ruhigeres Jahr, das erste Pflegejahr ohne Krankenhaus-Aufenthalt. Tosca konnte ihren 80. Geburtstag am 4. Februar ganz bewusst mit zahlreichen Gästen feiern. Auch unseren 58. Hochzeitstag am 26. Juli begingen wir mit einem Glas Sekt.
Das jetzt häufiger werdende Abgleiten aus der beschützenden, palliativen Pflege in Zustände, bei denen man um ihr Leben fürchten musste, bezog sich in allen sechs mit >H< für Hospizpflege protokollierten Fällen auf Schwächezustände, bei denen essen und trinken nicht mehr möglich war. Dazu kam noch ein epileptischer Anfall, der sich in völliger Abwesenheit äußerte, aber von selbst vorüberging.
Das insgesamt etwas ruhiger gewordene Leben meiner lieben Patientin äußerte sich sehr unangenehm mit einem neuen Pflegeproblem. Der bei Bettlägerigkeit gefürchtete Dekubitus wurde 15-mal protokolliert, mit Schwerpunkt im Hochsommer.
Die Sorge um das Auftreten dieser Hauterkrankung hatte schon früh zur Erkundung von Maßnahmen zur Dekubitusprophylaxe geführt. Die Vorsorge gegen das Auftreten von Dekubitus gehört zu den Standardaufgaben von Pflegerinnen und Pflegern bei Bettlägerigkeit. Im Internet gibt es Anleitungen dazu. Welch große Bedeutung das Thema hat, ergibt sich aus der Vielzahl von Aspekten, die in diesem Zusammenhang zu beachten sind. Ich fand unter anderem eine Unterteilung des Komplexes in Risikoerkennung, Mobilisation, Ernährung, Flüssigkeitszufuhr, Lagerung, Hilfsmittel, Hautpflege, Bettklima, Anleitung und Schulung, Kontinuität, Überprüfung der Effektivität, Mobilisation.
Auf Anraten von Mascha Schäfer hatten wir vor eineinhalb Jahren auf Rezept eine Wechseldruckmatratze besorgt und diese über das Sanitätshaus Trapp in Friedrichshafen liefern und einrichten lassen. Wechseldruckmatratzen gehören zu den Antidekubitusmatratzen, die alle den Zweck haben, Auflagedruck abzufangen. Das Besondere an einer Wechseldruckmatratze ist eine Automatik zur fortlaufenden Änderung des Auflagedrucks unter dem liegenden Patienten oder der Patientin als Dekubitusprophylaxe.
Die Luftmatratze wurde auf die vorhandene Matratze gelegt und mit dem Spannlaken überzogen. Sie bestand aus einer Vielzahl quer liegender Gummischläuche, die von einer ununterbrochen laufenden Luftpumpe im fortlaufenden Wechsel vom Kopfende zum Fußende aufgepumpt und entleert wurden. Die Luftpumpe stand vor dem Fußende des Pflegebettes. Ihre Tätigkeit konnte über Kontrollleuchten überwacht werden. An das Pumpengeräusch hatten wir uns bald gewöhnt.
Es war ein guter Gedanke, einen automatischen Helfer bei der Prophylaxe zu haben. Ein Nachteil war, dass Tosca kontinuierlich vom Kopfende zum Fußende transportiert wurde. Wenn die Füße über das Ende des Bettes hinausragten, musste sie wieder hochgezogen werden. Das war mühsam, weil ich mich dazu zwischen Bettrahmen und Kopfteil der Matratze einklemmen musste. So konnte ich sie, unter den Armen gefasst, wieder hochziehen. Der Vorteil war, dass dies ebenfalls ein wichtiger Beitrag zur Mobilisation war.
Nach einem Jahr zeigte das technisch bewundernswerte System Ermüdungserscheinungen und musste ausgewechselt werden. Die zweite Version blieb uns dann bis zum Ende treu. Wir hatten ihm zu verdanken, dass Tosca nur leichte, oberflächliche Formen von Hautentzündungen erlitt. Dekubitus wurden sie dennoch genannt. Unter den Sammelbegriff fallen alle Formen von Druckauflage bedingten Hautentzündungen, darunter auch sehr schwere, in Hautkrebs mündende.
Ich nahm ärztliche Hilfe gegen Dekubitus in Anspruch. Herr Dr. Löwe verschrieb Tosca einen Spezialverband, der auch auf einer flach gewölbten Oberfläche, wie sie das Gesäß darstellt, haften bleibt. Mit dieser Hautcremegaze musste ich mich erst einmal vertraut machen.
Die 10 mal 10 cm messenden, mit der Hautcreme imprägnierten Gazestücke waren einzeln verpackt und konnten bei Bedarf noch in der Packung zugeschnitten werden. Man öffnete die Packung und löste die Gaze mit einer Pinzette von der Unterlage. Mit etwas Geschick konnte man die Wundfläche glatt überdecken und die Gaze mit Verbandmaterial fixieren. Ich wechselte den Verband alle drei Tage. Nach drei Wochen war die betroffene Hautstelle wieder geheilt.
Die täglich zweimaligen Bauchmassagen wirkten auf Tosca belebend. Von ihrem Bett aus verfolgte sie jetzt mit Blick aus dem Fenster wieder aufmerksam die Entwicklung des Wetters und den Gang der Jahreszeiten. Für mich bedeuteten die Bauchmassagen eine Annäherung an meine Belastungsgrenze.
Als ich eines Abends um 23:00 Uhr beim Massieren war, schlief ich ein und stürzte rückwärts gegen das Wandregal und auf den Fußboden. Ich war sehr schnell wieder wach, als der Inhalt des Regals auf mich herunterprasselte. Rings um mich herum und auf mir lagen Bücher, Geschirr und Pflegeutensilien. Der Rücken schmerzte von Schürfwunden. Ich hatte ein Warnsignal erhalten.
Anfang Januar hatte ich Ruben und Ben zu einem Lokaltermin in unseren Hobbyraum gebeten. Ruben, ein mir bekannter Installateur einer Weingartener Firma, sollte eine grobe Skizze einer Einliegerwohnung machen. Ich wollte vorsorglich die Voraussetzungen für den Fall schaffen, dass ich eine Pflegekraft zu meiner Unterstützung ins Haus nehmen musste. Ben war einer seiner Mitarbeiter bei der Ausführung größerer Umbauarbeiten. Die beiden Handwerker berieten sich längere Zeit und legten mir dann eine Skizze vor, bei der die Nasszelle, das künftige Badezimmer, vor das Fenster gerückt war. Das Problem war, dass sie keinen Wasserabfluss gefunden hatten und deshalb das Abflussrohr durch die Hauswand direkt zum Kontrollschacht vor dem Haus geführt hatten.
Zufällig kam am nächsten Tag mein Heizungsmonteur Engelhardt zur jährlichen Inspektion unserer Ölzentralheizung, dem ich die Skizze und die Bauzeichnung zeigte und das Problem mit der Abwasserleitung erläuterte. Er deutete auf die Bauzeichnung und sagte: „Da geht doch ein Abflussrohr durch das Zimmer“. Jetzt fiel mir wieder ein, dass ich vor 43 Jahren, als wir unser gerade gekauftes Haus bezogen hatten, einen offenen, stinkenden Abfluss im benachbarten Heizkeller zubetoniert hatte.
Für Ben war es nun kein Problem, das Abflussrohr an der Rückwand des Zimmers freizulegen. Herr Engelhardt skizzierte die nun an der idealen Stelle liegende Nasszelle und bot mir an, die Bauleitung in die Hand zu nehmen. Ruben bat ich, den schon für den nächsten Tag geplanten Baubeginn zu stornieren, und an Stelle seiner Mitarbeiter rückten die Handwerker der Firma Engelhardt an. Ich konnte aufatmen. Ich würde eine schöne Einliegerwohnung bekommen. Das wäre um ein Haar schief gegangen.
Bens handwerklichen Fertigkeiten war es schließlich zu verdanken, dass sich der Hobbyraum mit seinem uralten Teppichboden und den leicht schiefen Wänden in eine hübsche, kleine Einzimmerwohnung von 55 Quadratmeter Fläche mit eigener Haustüre verwandelte.
Meine Freundin Sybille hatte mir vor Ort in einem Möbelhaus beim Aussuchen des Mobiliars und der Lampen wertvollen Beistand geleistet. Bei Bedarf würde hier eine 24-Stunden-Hilfe wohnen können. Der Bedarf stellte sich schneller ein als damals gedacht.
Ein paar Tage nach ihrem Geburtstag erhielt Tosca einen nachträglichen Besuch zum Gratulieren. Zwei ihrer liebsten Kolleginnen, Nuria und Ursel, waren gekommen. Das war ein freudiges Wiedersehen in Erinnerung an die gemeinsame Zeit in der Schule. Ich war ihnen für diese Initiative sehr dankbar, die offensichtlich zu einer kräftigen Ausschüttung von Glückshormonen geführt hatte, als da sind Serotonin, Dopamin, Endorphine, Noradrenalin, Oxytocin und Phenethylamin – es lebe die Wissenschaft! Auch ich hatte mich über den Besuch dieser langjährigen auch mir lieben Freundinnen sehr gefreut.
Im Laufe dieses Berichtsjahres 2019 hatte ich wieder alle verbalen Äußerungen Toscas notiert. Nichts konnte besser dazu beitragen, ihren Allgemeinzustand zu erkennen. Es kam schon auch vor, dass sie viel Unverständliches äußerte, aber immer wieder konnte man sie gut verstehen. Die Deutung blieb allerdings meiner eigenen Kreativität überlassen.
„Hab‘ ich den Schnellreiniger?“ „Wieso?“ „Nur so, wegen der Geschwindigkeit.“
„Pu!“ „Ja?“ „Ich weiß nicht, was ich soll.“ „Du sollst gar nichts, du sollst nur auf die Physiotherapie warten.“ „Okay.“
„Was machst du?“ „Ich räume auf.“ „Und sonst bist du gesund?“ „Ja“.
„Ich geh‘ jetzt mal Kaffee machen“. „Und wie machst du den?“ „Mit der Kaffeemaschine, in der Küche“. Lächelt.
Anruf ihres Bruders. „Sag hallo Onit“. „Hallo Onit“. Und? „Wir waren im Urlaub und es war sehr schön“.
„Bist du verreist?“ „Nein, ich verreise nicht. Ich bleibe bei dir“.
Ruft von 1 Etage höher zu mir herunter: „Möchte schlafen gehen“.
Frägt 2 x nacheinander: „Wie geht es dir?“
Sagt: „Hetz‘ dich nicht“. Ich bin ganz gerührt.
„Ich hab‘ ganz stark eine …“ zögert… „eine Therapie“.
„Du musst warten, ich muss noch aufräumen“. „Und was machst du?“ Ich sage ihr, was ich mache, und sie ist damit zufrieden.
Frägt: „Wann? - - - wann? - - ich hätte gerne gewusst, wann ich Therapie bekomme“.
Der Begriff „Therapie“ kommt ihr immer wieder in den Sinn, wenn sie angestrengt im Gedächtnis nach irgendetwas sucht, was sie beschäftigt, und sie es nicht finden kann. Manches, was sie sagte, klang ganz vernünftig, anderes war völlig aus der Luft gegriffen. Manchmal konnte man nur den Kopf schütteln. Und dann konnte es doch auch wieder vorkommen, dass sie in Raum und Zeit völlig normal orientiert zu sein schien, wie hätte sie sonst zu mir sagen können: „Hetz‘ dich nicht“.
Zusammengefasst ergibt sich ein ähnliches Bild vom Auf und Ab ihrer allgemeinen Orientierung in Raum und Zeit wie im vorangegangenen Jahr. Es war diesbezüglich keine Verschlechterung eingetreten. Ich war mir sicher, dass ihr unveränderter Allgemeinzustand den konsequent durchgeführten, annähernd professionellen Bauchmassagen zu verdanken war.
In dieser ruhigen Phase innerhalb des Gesamtverlaufes der Erkrankung konnten wir am 26. Juli unseren 55. Hochzeitstag mit einem Glas Sekt feiern. Wir hatten 1964 in Tübingen geheiratet und konnten auf glückliche gemeinsame Jahrzehnte zurückblicken. Sprach ich Ereignisse aus diesem Zeitraum an, konnte ich in ihrer Mimik und vor allem in ihren Augen ablesen, ob sie sich erinnerte oder nicht. Das war dann oft mehr als ein schlichtes Echo auf meine Erzählungen.
Toscas Pflegebett war durch den motorisierten Pflegeeinsatz zwar sehr praktisch und variabel, aber auch unsicher geworden. Seit die Wechseldruck-Matratze ihrem eigenen mechanischen Rhythmus folgte, konnte dies zu unvorhergesehenen Lageänderungen führen. Am 9. September wurde ich durch einen dumpfen Fall geweckt. Tosca musste aus dem Bett gefallen sein.
Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es fünf Minuten vor 5 Uhr früh war, fünf Minuten, bevor ich durch meinen Wecker geweckt worden wäre. Ich sprang aus dem Bett. Tatsächlich lag Tosca der ganzen Länge nach auf dem Teppichboden neben ihrem Bett. Eine kurze Untersuchung ergab, dass sie sich keine äußeren Verletzungen zugezogen hatte. Sie war ansprechbar und klagte nicht über Schmerzen. Sie hatte noch einmal Glück gehabt.
Ich alarmierte das Deutsche Rote Kreuz über den Hausnotruf. Über Funk hörte ich eine freundliche Frauenstimme: Guten Morgen, Frau Tosca, was kann ich für Sie tun? Nach meinem Bericht mit den 5 W’s, wo, was, wie viele Verletzte, welche Art von Verletzungen, warten – hatte ich noch nicht aufgelegt, als mir folgender Funkspruch in die Ohren schallte: „Bitten Sie in der Nachbarschaft um Hilfe! Anruf beendet! Schnarrgeräusche“. Das war professionell aber auch enttäuschend. Ich hatte es mir anders vorgestellt. Wozu bezahlten wir denn unsere Monatsraten?
Ich rief bei unseren Nachbarn und Freunden Géraldine und Guy an. Keine 10 Minuten später half mir Guy schon beim Aufbau des Pegasus. Zusammen zogen wir die im Schockzustand zitternde Tosca auf das Gerät, kurbelten sie behutsam hoch und rollten sie vorsichtig auf ihre Matratze zurück. Das war noch einmal gut gegangen.
Anfang November hatte ich meine freundliche Bankberaterin Nadja um ein Bankberatungsgespräch bei mir zu Hause gebeten. Nach Erledigung der anstehenden Themen ergab sich ein freundschaftliches Gespräch, in dessen Verlauf meine Pflegesituation immer mehr in den Mittelpunkt rückte. Dabei erfuhr ich zum ersten Mal etwas über Minijobs. Sandra riet mir, einen Versuch in dieser Richtung zu unternehmen. Ihr nur halbstündiger Besuch hatte einen Stein ins Rollen gebracht.
Der Montagstermin wäre kein Problem gewesen. Er lag am frühen Nachmittag und hätte auch einmal etwas früher oder später stattfinden können. Aber der Freitagstermin um 12:30 Uhr musste pünktlich eingehalten werden, weil auf Frau Schäfer in ihrer Praxis am Bodensee neue Termine warteten. Immer wieder war es vorgekommen, dass sie schon im Auto vor dem Haus gewartet hatte, wenn ich mit dem Risiko, unterwegs geblitzt zu werden, mit meinem Wocheneinkauf zu Hause ankam.
Die Entscheidung für den Minijob fiel schon am nächsten Abend. Ich war am Computer kurz eingeschlafen und mein Kopf kam auf die Tastatur zu liegen. Als ich wieder aufwachte, musste ich feststellen, dass versehentlich Daten gelöscht worden waren. Es war eine Katastrophe. Eineinhalb Monate Protokolldaten waren verloren. Lediglich die regelmäßigen Besuche von Frau Schäfer konnte ich rekonstruieren. Ich war innerhalb eines Vierteljahres zum zweiten Mal bei der Arbeit eingeschlafen. Beides Mal mit schwerwiegenden Folgen. So konnte es nicht weitergehen. Ich musste mir eine Entlastung schaffen.
Bei meinem Steuerberater stieß ich auf ein ausschließlich positives Echo. Die Vertragskosten für den Minijob würde ich über die Einkommensteuer-Erklärung wieder hereinbekommen. Die anfallenden Stundenlöhne waren zu verkraften.
Schon zwei Tage später stellte sich heraus, dass sie meine Bitte sehr ernst genommen und bereits eine Lösung für mich gefunden hatte. Am Sonntag Nachmittag erhielt ich einen Überraschungsbesuch, den ich in das Krankenzimmer bat und am Besuchstisch mit Kaffee bewirtete. Malaika hatte eine ehemalige Kollegin aus ihrer Ausbildungszeit als Friseurin mitgebracht, mit der sie befreundet war. Greta stellte sich mit den Worten vor: „Ich bin eine Waise“. Sie sei vorgestern 21 Jahre alt geworden. So wirkte sie auch. Eine freundliche Jugendliche, hübsch und temperamentvoll und offensichtlich an dem Minijob interessiert. Ich erfuhr, dass sie umgesattelt hatte und sich jetzt in der Ausbildung zur Krankenschwester befand. Somit würde ich ihr auch Betreuungsleistungen für Tosca übertragen können.
Der Vertrag war mündlich besiegelt. Die notwendigen Formalitäten wollte ich so rasch wie möglich über meinen Steuerberater erledigen. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Kurz vor Jahreswechsel konnte ich im Protokoll notieren: „Greta 4 Stunden Haushalthilfe“.
Lichtblicke (2020), die Schwarze Phase
Den Beginn des neuen Jahres 2020 feierten wir wie gewohnt mit der Silvesterparty am Brandenburger Tor auf dem Bildschirm und einem Glas Sekt in der Hand. Anschließend ließ ich Tosca allein, weil mich Géraldine und Guy zum Anstoßen auf das neue Jahr eingeladen hatten. Wir genossen dort das grandiose Feuerwerk von ihrem Balkon mit weitem Rundblick über das Schussenbecken vom Mehlsack bis nach Mochenwangen. Es bestand Anlass genug, sich gegenseitig viel Glück zu wünschen. Géraldines betagte Mutter lebte inzwischen in einem Pflegeheim. Ihr galten die guten Wünsche beim Sekt ebenso, wie meiner lieben Tosca. Ich war in Sorge, ob sie beim Krachen der Böller aufgewacht war und sich plötzlich verlassen gefühlt hatte. Ich blieb nur so lange, wie es die Höflichkeit erforderte, und beeilte mich, wieder bei Tosca zu sein. Mein Gefühl hatte nicht getrogen. Tosca musste dringend frisch gemacht werden. Nach gut eineinhalb Stunden Körperpflege ließ ich mich um 02:00 Uhr erschöpft ins Bett fallen. Das neue Jahr mit seinen erhofften Lichtblicken hatte begonnen.
Am Neujahrsmorgen war sie so schwach, dass ich mich veranlasst sah, ein >H< in das Protokoll zu schreiben. Es war ihr nur mit äußerster Anstrengung möglich gewesen, ein Glas Wasser zu trinken. Sie erholte sich aber bald wieder. Der Januar verlief in ruhiger Routine. Immer wieder kamen Besuche. Die neue Technik des Musikstreamens war für Tosca wie für sie geschaffen. Die Musik umgab sie fast ständig wie ein Schutzmantel. Vielleicht weckte sie wohltuende Resonanzen in ihrer Seele, besonders wenn es sich um vertraute Melodien handelte.
Bewusst wählte ich deshalb immer wieder die gleichen Playlists (>P<) aus. In ihren Reaktionen, in erster Linie an ihrer Mimik, konnte ich ihre Stimmung erkennen. Wir hatten Amazon prime abonniert und konnten streamen, so viel und solange wir wollten.
An Neujahr war es morgens die >P< „Neues Jahr, neues Glück“ gewesen, abends ein Neujahrskonzert. Dann folgten, mit der Anzahl unserer Aufrufe in Klammern hinter dem Titel, unter vielen anderen, die >P< „2000er R&B-Party“ (1), die >P< „Taufrisch: R&B & Soul (2)“, die >P< „Akustik Coffee-Break“ (3), die >P< „Frühlings-Hits“ (3), die >P< „Gute-Laune-Pop“ (4), die >P< „Entspannt mit Acoustic-Pop“ (5), die >P< „Acoustic Chill“ (5), die >P< „Pop Lab“ (5), die >P< „Feierabend-Folk“ (7) und schließlich der absolute Renner, die >P< „Taufrisch“ (23), die von Amazon immer wieder neu bestückt worden war. Insgesamt ergab die Suche nach dem Symbol >P< im Beobachtungsjahr 2020 118 Treffer.
Dass der Begriff Akustik, bzw. Acoustic, in dieser Aufzählung mehrfach vorkommt, lag an meiner Vorliebe für Gitarrenmusik, die auch Tosca sehr gern hatte. Auch der Feierabend-Folk gehörte zu diesem Genre. Hier hörte sie viele der Lieder, die ich früher selbst gespielt und gesungen hatte.
Mein angeschlagener Allgemeinzustand besserte sich. Greta war eine sehr große Hilfe. Die 80 Stunden Haushaltshilfe, die sie im Pflegejahr 2020 einbrachte, machten sich überall bemerkbar, an der Sauberkeit der Wohnung, in den Gefrierschränken, in den Dienstleistungen im Rahmen von Toscas Pflege, beim Wocheneinkauf und als Begleitung bei meinen Arztterminen. Insgesamt 9-mal übernahm sie die sonntägliche große Morgenwäsche bei Tosca, für die sie jedes Mal drei Stunden investieren musste.
Ich stellte ihr unser Auto bis auf weiteres zur Verfügung. Mit der Handsteuerung konnte sie die Garage von außen öffnen und auf diese Weise gehen und kommen, wann es in ihren Dienstplan passte. Ich wollte ihr damit auch die Wahrnehmung ihrer Ausbildungstermine erleichtern. Auf diesen Komfort musste sie später verzichten, als meine Betreuungshilfe Katharina sich im Haus nicht mehr sicher fühlte, weil sie Greta weniger vertraute als ich es tat.
Unterstützt durch Greta konnte ich die anstrengende Pflege von Tosca bewältigen. Bei ihr hatte sich eine eher beunruhigende Ruhe breit gemacht. Im Februar hatte sie sich kein einziges Mal verbal geäußert, im März einmal, im Mai und Juni je zweimal. Ich war von morgens um halb neun Uhr bis kurz vor Mitternacht pausenlos im Einsatz. Am meisten Arbeit machte der Stuhlgang. Für das Jahr 2020 schrieb ich 80-mal eine mehr oder weniger normale Reinigungsaktion auf. Große Reinigungsaktionen kamen etwa 25-mal vor, davon sehr große 18-mal. Für diese waren manchmal bis zu drei Stunden Reinigungsarbeit erforderlich. Das zehrte an meinen Kraftreserven. Seit Greta anfangs Februar das Auto zur Verfügung hatte, stand mir als Ausgleich in der frischen Luft nur noch die Gartenarbeit zur Verfügung. In Toscas zunehmender Dunkelheit begann ich Lichtblicke aus ihrem Leben einzublenden, die Sie in der Vollversion Tosca contra Alzheimer miterleben können. Dort können Sie sich mit Hilfe von 325 Bildern eine bessere Vorstellung des Krankheitsverlaufes machen, als es in dieser nüchternen Version möglich ist.
Am 13. März 2020 schloss ich mit der Agentur PflegePiloten einen Betreuungsvertrag ab. Ich erhielt ein Datenblatt mit Foto über eine 32-jährige ukrainische Betreuerin namens Katharina, die am 19. März mit ihrer Arbeit bei mir angefangen hätte, wenn nicht Corona dazwischengekommen wäre. Der Arbeitsbeginn musste bis auf weiteres verschoben werden, da Katharina an der polnischen Grenze festgehalten wurde.
Die PflegePiloten hatten sie von einer polnischen Agentur namens Euroopieka vermittelt bekommen. Sie wurde von dort als eine erfahrene Betreuerin mit 2 Jahren Erfahrung in der Pflege- und Betreuungsbranche in der Ukraine vorgestellt. Sie hatte unter anderem schon Patientinnen und Patienten betreut, die an Alzheimer litten, und hatte auch Erfahrung mit bettlägerigen Patientinnen und Patienten.
Leider musste ich vorläufig bis auf weiteres auf sie warten. Während dieser Zeit kam am 18. März eine Bekannte auf einen Übernachtungsbesuch und konnte die Einliegerwohnung probeschlafen und durchtesten. Bis auf ein paar Kleinigkeiten war alles in Ordnung. Der vorsorgliche Einbau war richtig gewesen.
Corona bedingt fast zwei Monate später als ursprünglich angekündigt, traf Katharina ein, von ihrem Ehemann Pawel im Privat-PkW aus Polen hergebracht. Die Zwischenzeit hatte ich dank Gretas Hilfe pflegerisch überbrücken können. Am Morgen des 17. Mai hatte ich den ersten telefonischen Kontakt während ihrer Anfahrt durch Deutschland bekommen. Katharina hatte angerufen und sich in gut verständlichem Deutsch vorgestellt. Pawel am Steuer wurde das Telefon vorgehalten, und er begrüßte mich ebenfalls, allerdings in sehr geradebrechtem Deutsch.
Ich hatte Glück. Bei meiner stillen Tosca würde ich mich ab jetzt mit Katharina unterhalten können. Was würde ich alles erfahren von einem Menschenkind, das gefühlt von einem anderen Planeten stammte.
Am ersten Tag durfte Katharina nur zuschauen, während Greta die große Sonntagswäsche bei Tosca durchführte. Katharina musste erst noch getestet werden.
Greta war mir eine große Hilfe geworden. Am zweiten Tag nach Katharinas Ankunft hatte sie nach einer Stunde Haushaltshilfe Tosca eine professionelle manuelle Therapie verpasst.
Tags darauf wurde Katharina von Dr. Löwe negativ auf Corona getestet und übernahm ab sofort eigenständig Toscas Betreuung.
Ich konnte aufatmen. Mit einem Glas Sekt feierten wir Katharinas Einstand. Die neue Einliegerwohnung gefiel ihr. Tosca gegenüber zeigte sie sich empathisch, was auf ihre neue Patientin positiv ausstrahlte. Ihre liebevolle Aura verschmolz mit Toscas eher magnetischer Aura.
Wie mir Katharina berichtete, hatte Tosca sie bei der Betreuung zweimal gefragt, was sie mache. Bei uns war es recht unruhig gewesen, weil wir zu gleicher Zeit zwei Übernachtungsgäste hatten. Pawel war über das Wochenende gekommen, um seine Frau zu besuchen. Katharina hatte für ihn in der Einliegerwohnung ein Matratzenlager eingerichtet. Und Isabella von Dellingshausen war im Gästezimmer einquartiert.
Ende Mai, Anfang Juni 2020 steht das Symbol für Hospizpflege innerhalb einer Woche viermal im Protokoll. Die jeweiligen Kommentare zum Symbol >H< waren im Original: Anreichen war kaum möglich; Mittagessen anreichen nur mit großer Mühe möglich, weil apathisch; kann beim Frühstück fast nicht mehr schlucken; kann beim Mittagessen fast nicht mehr schlucken. Tosca befand sich auf einem gesundheitlichen Tiefpunkt. Katharina war beim Anreichen maximal gefordert. Speisen mussten mit einem Smoothie-Maker püriert werden. Nur mit liebevollem Zureden konnte Tosca zum Öffnen des Mundes bewegt werden.
Dem immer schwieriger werdenden Anreichen gegenüber ereignete sich auch etwas Positives. Das Sanitätshaus tauschte den bisher verwendeten Einlegerahmen am 4. Juni 2020 gegen ein Pflegebett aus. Die Bestellung hatte Greta Anfang Januar empfohlen. Ich hatte auch noch einen Pflegebett-Nachtschrank mitbestellt. Auf diesen wartete ich vergebens.
Beim damaligen Austausch des Bettrostes gegen einen Einlege-rahmen war ich über die damit verbundene Verbesserung der Pflegesituation erleichtert gewesen. An die nur von einer Seite her mögliche Pflege hatte ich mich gewöhnt, und an das Abrücken meiner Betthälfte gegen die Wand, um auch von der anderen Seite her arbeiten zu können, hatte ich nicht gedacht. Von jetzt an konnten die Seitenteile des Pflegebettes nach Bedarf abgesenkt werden. Die Betreuung war auf beiden Seiten möglich.
Am Sonntag, 21. Juni 2020, antwortete Tosca auf Katharinas Gruß mit einem klaren „Guten Morgen“, und tags darauf antwortete sie auf „Gute Nacht, liebe Tosca“ mit „Ja, gute Nacht“. Dies waren für mich gute Zeichen.
Am 22. Juli hatte Dr. Löwe bei Tosca eine Lungenentzündung diagnostiziert, gegen die mit einem Antibiotikum angekämpft werden musste. Der ganze Tag verlief mit Signatur >H< im Hospiz-Pflegerhythmus.
Tosca sinnierte still vor sich hin, ließ die gestreamte Musik auf sich einwirken und hatte die Augen geschlossen. Katharinas Betreuung ließ sie über sich ergehen. Auf den Harndrang musste sie nicht achten, der Katheter arbeitete von ihr unbemerkt. Das Signal Stuhldrang kam jedoch nicht mehr in ihrem Bewusstsein an. Den traurigen Beweis dafür erlebten wir am 1. August 2020.
Ich notierte ein Ereignis, über das ich mich später mehrfach mit Katharina unterhielt. Sie hatte unsere Patientin beim Wechseln der Windel auf die Seite gedreht und entging knapp einem Kotstrahl gegen die Wand, wie man es etwa bei Wasservögeln beim Start erlebt.
Am 7. August 2020 traf Olesja bei uns ein, eine 24-jährige ukrainische Ärztin in Weiterbildung. Sie plante, ihr Studium in Polen zu beenden. Die polnische Sprache ist für Ukrainer eine Fremdsprache. Um die für das Weiterstudium benötigte Stufe B 2 zu erreichen, musste sie in ihrer freien Zeit studieren. Dazu gehörten Unterrichtsstunden mit einer polnischen Dozentin per Video.
Ihre Deutschkenntnisse ließen noch zu wünschen übrig. Mit jugendlichem Schwung fand sie sich schnell überall zurecht. Bei Toscas Betreuung hatte sie keine Probleme. Ich hatte zum zweiten Mal großes Glück gehabt. Da ich beruflich mit Studierenden gearbeitet hatte, war Olesja für Tosca und mich eine perfekte Besetzung.
Als Katharina von ihrem Mann Pawel abgeholt worden war, ging Toscas Betreuung in Olesjas Verantwortung nahtlos über. An die Haushaltsführung hatte sie sich schnell gewöhnt. Der erste vierteljährliche Wechsel war vollzogen.
Am 31. August 2020 musste Olesja bei einem schweren Hustenanfall Tosca erste Hilfe leisten. Im Sitzen und so weit wie möglich vorgebeugt schlug sie ihr mit der flachen Hand immer wieder kräftig auf den Rücken, bis ihre Atemwege wieder frei waren. Anschließend war Tosca wieder etwas entspannt und hellwach.
Unsere liebe Patientin war inzwischen fast ganz verstummt. Ende September 2020 hatte ich noch dreimal „ja“ im Protokoll notiert, dann nichts mehr. Wenn ich sie ansprach, schaute sie mich freundlich und vertraut an.
Am 8. Oktober 2020 übernahm Katharina zum zweiten Mal die Betreuung. Gut vier Wochen später war Tosca am Ende ihres Lebensweges angekommen, den Sie in der Vollversion Tosca contra Alzheimer, dem romantischen Sachbuch, nun von der Geburt bis zu ihrem von mir im Buch dramatisch inszenierten Ende verfolgen können. Da Sie sich mit der Lektüre schon sehr an Tosca
angenähert haben, wird es Sie bereichern, mehr über sie und ihr bewegtes und in bunten Farben leuchtendes Leben zu erfahren.
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